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Hatto Fischer zu Griechenland: „Es sind doch europäische Schulden!“

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Eine laue Sommerbrise weht über die Terrasse, Sonnenstrahlen tanzen durch das hellgrüne Laub der Bäume und die Kaffeemaschine spuckt unaufhörlich süßen griechischen Kaffee aus: Im Nice n Easy, einem der überraschend vielen Biocafés in Athen, kann man schnell vergessen, dass noch vor zwei Wochen der Ausnahmezustand herrschte.

Wir treffen Hatto Fischer, einen deutschen Schriftsteller und Mitbegründer der NGO Poiein kai prattein („Schaffen und tun“), um aus der griechischen Tragödie schlau zu werden.

„Die Frage, die von den Protesten auf dem Syntagma-Platz aufgeworfen wurde, ist doch eigentlich, ob politische Parteien und Gewerkschaften es den Menschen erlauben, sich Gehör zu verschaffen. Denn die eigene politische Stimme zu erheben, heißt ja auch immer, die öffentliche Meinung zu gestalten und sich eine konkrete Agenda zu setzen.“ Genau das – eine Agenda für nicht nur politischen, sondern gesellschaftlichen Wandel – brauche Griechenland mehr als dringend, meint Hatto Fischer. Es wäre zu einfach, die Proteste als simple Reaktion auf die Finanzkrise und das griechische Staatsdefizit abzutun.

„Das Grundproblem ist definitiv kein rein griechisches, sondern betrifft ganz Europa!“

Hatto Fischer zeichnet das Porträt einer Gesellschaft, die seit dem 2. Weltkrieg zwischen Bürgerkrieg und einer grausamen Militärjunta aufgerieben wurde und nun seit 1974 versucht, eine moderne und demokratische Gesellschaft zu sein. Die Brüche, die damals in der griechischen Gesellschaft vollzogen worden seien, bestimmten noch heute die extremen Fronten, an denen der Umgang mit Korruption und sozialer Ungerechtigkeit ausgehandelt werde.

Hatto Fischer, der lange in Kanada, später in London, Berlin und zeitweilig auch in Brüssel gelebt hat, beschäftigt sich nun schon seit 1988 mit den Besonderheiten eines Landes, das so ganz anders als seine europäischen Nachbarn ist. Als ehemaliger Berater des Kulturkomitees des EU Parlaments immer in Europa unterwegs, hat er sich Athen zu seiner zweiten Heimat erkoren und arbeitet mittlerweile vorwiegend als Schriftsteller und Koordinator von europäischen Kulturprojekten.

Es sei der öffentliche Raum, der Griechenland fehle und nicht zuletzt deshalb seien die Ereignisse um die Finanz- und Staatsdefizitkrise so eskaliert. Wie passt das aber zu einem Land, das mit Platon den philosophischen Dialog erfunden und mit den Peripatetikern das Diskutieren im öffentlichen Raum zur Kunstform erhoben hat? „Natürlich hat die antike griechische Philosophie immer noch einen gewissen Einfluss. Aber sie war eben auch demokratisch, denn im antiken Griechenland wusste man die Macht der Reichen und Starken zu beschränken. Wir leben aber in einer Zeit, in der den Reichen Steuernachlässe genehmigt werden. Daher können wir auch nicht behaupten, dass zwischen unserer Gesellschaft und der antiken Demokratie irgendwelche Gemeinsamkeiten bestehen.“ Und das sei nur ein weiteres Anzeichen dafür, dass der griechischen Politik das metron, das rechte Maß abhanden gekommen sei.

Sieht so europäische Integration aus?

Link zum Weiterlesen: Griechen und Deutsche über das Finanzdebakel in der Eurozone

Erschreckend sei dabei aber auch, so Hatto Fischer, was für eine schlechte Figur die EU in der von der Boulevardpresse als „Griechenlandkrise“ gebrandmarkten Affäre spiele. Die Reaktionen aus dem EU-Lager deuteten vor allem auf eine misslungene europäische Integration hin, die noch immer im „nationalen Stereotypendenken“ verhaftet sei und die Griechen als Sündenbock missbrauche. „Wenn wir wirklich in einem Boot säßen, würden wir nicht länger versuchen, diese Dinge als 'typisch Deutsch' oder 'typisch Griechisch' abzuhaken.“ Doch die Griechen hätten nicht nur von den Deutschen die Nase voll, sondern von der ganzen EU, die immer mehr zu einer von Joschka Fischer proklamierten „Elite der Elite“ werde: „Den Euro gibt es nun schon länger, aber wir sprechen immer noch von 'griechischen Schulden'. Dabei sind es doch europäische Schulden! Wenn wir das nicht verstehen, werden wir die Krise nie lösen können.“

Seit 2002 bemühen er und seine Mitstreiter sich, durch Kulturaktionen eine Brücke zwischen Kunst, Kultur und gesellschaftlichen Planungen aller Art zu schlagen.

„Der Mensch muss, um frei zu sein, seine eigene Verrücktheit leben“

„Der Dichter Iannis Ritsos hat einmal gesagt, dass der Mensch, um frei zu sein, seine eigene Verrücktheit leben muss. Das ist vielleicht die beste Definition von 'Freiheit' in Griechenland: Die Toleranz für die Verrücktheit des anderen ist hier größer.“ Deswegen dächten die anderen Europäer so häufig, dass die Griechen spinnen: „Ich würde behaupten, dass der griechische Geist sehr viel rationaler und intellektueller als andere ist, und das muss natürlich ausgeglichen werden.“ Die Sinneserfahrungen seien dabei eine mögliche Lösung, glaubt Hatto Fischer: „Ich liebe es, wie in Griechenland alle Sinne angesprochen werden, aber auch der Intellekt nie ausgeschaltet ist. Die Neugier ist hier groß genug, daher brauchen sie anders als wir anderen Europäer keine Probleme als Vorwand, um zu denken.“

Das kann den Griechen im Moment natürlich nur allzu gelegen kommen, denn um den Karren wieder aus dem Dreck zu ziehen, werden sie sich intensiv die Köpfe heiß denken müssen. Eines der größten Probleme, die in den nächsten Monaten angegangen werden müssten, sei zweifelsohne die „kreative Buchhaltung“, meint Hatto Fischer. Um das Vertrauen der anderen Länder aber auch der Griechen selbst in ihr Land wiederherzustellen, müsste vor allem der gesunde Menschenverstand reaktiviert werden: „Wir brauchen eine Lösung, um gemeinsam aus der Krise zu kommen. Also keine 'Medusafloß-Lösung', bei der ein paar gerettet und die anderen ins Wasser gestoßen werden.“ Die Wahrscheinlichkeit, die Krise zu meistern, mag zwar momentan eher gering erscheinen, doch nutze es auch nichts, die Fragen der Zukunft ängstlich anzugehen, betont Hatto Fischer. Beim Betrachten der Sonnenstrahlen und mit einer guten Tasse griechischem Kaffee erscheint dies plötzlich auch möglich. Es bleibt zu hoffen, dass sich die Demonstranten im Herbst, gut erholt nach langen Ferien, mit ihren Politikern und den Vertretern der EU zusammensetzen, um das griechische Schiff wieder auf Kurs zu bringen. Es muss ja nicht immer die Medusafloß-Lösung sein.

Fotos: ©Benedicte Salzes/ benedictesalzes.com