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Generation Sowjet vs. Generation Europa

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Lettland hat einen schnellen Übergang von der Sowjetunion zur Europäischen Union erlebt - was ist noch übrig von der Generation Perestroika und was zeichnet die neue Generation aus? Ein Italiener auf Spurensuche in der Kleinstadt Rēzekne. 

Am 4. Mai 1990 erlangte Lettland seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion. Damit wurde das Land nach dem 18. November 1918, das heißt nach der Kapitulation Deutschlands, zum zweiten Mal unabhängig. Nach fast einem Jahrhundert unter russischer und deutscher Vorherrschaft kann sich das Land heute wieder so zeigen, wie es wirklich ist: jung, dynamisch und verschreckt.

Lettland hat sich für einen schnellen Übergang von einer Union in die andere entschieden. Früher konnte man nach Russland, Georgien, Litauen und in alle anderen kommunistischen Länder reisen, heute gibt es den Schengen-Raum. Früher hatte jeder eine Arbeit und ein Zuhause, heute haben einige zehn Häuser und andere betteln. Früher war die Freiheit stark eingeschränkt, heute ist wie überall auf der Welt Eigeninitiative gefragt.

Der 4. Mai ist ein sehr wichtiger Tag - vor allem im östlichen Teil des Landes, der an Russland grenzt. Der Präsident und zahlreiche Vertreter öffentlicher Einrichtungen sind nach Rēzekne gekommen, um an den Wunsch Lettgallens (historische Landschaften Lettlands, die im Osten an Russland grenzt, AdR) zu erinnern, Teil von Lettland zu sein, und die Wiedergeburt des Landes zu feiern. Eine junge und formal freie Nation, in der der Einfluss der Sowjetzeit jedoch noch deutlich spürbar ist. Er zeigt sich in der Architektur, der Wirtschaft, der starken Verbreitung der russischen Sprache, der Mentalität.

Was sagen verschiedene Generationen zum Lettland von damals und heute? Im Interview antworten zwei Lettinnen aus zwei Generationen: Die Eine wurde in der Sowjetunion geboren, die Andere gehört zur jungen „Generation Perestroika“.

Was sind für dich die positiven und negativen Aspekt der Sowjetunion?

Generation Perestroika: Man hatte definitiv keine Wahl. Bildung, Arbeit, Reisen, das waren alles Entscheidungen von oben. Du konntest über fast nichts in deinem Leben selbst entscheiden. Es gab keine Möglichkeit, das geschlossene System des Staats zu verlassen. Wenn ich die Sowjetwelt zeichnen sollte, würde ich sie als Kreis aus lauter verbundenen Punkten darstellen - heute wäre das mindestens ein Pollock! Jeder für sich, Solidarität und Gemeinschaftsgeist sind vielleicht ein wenig schwächer geworden.

Aber alle hatten eine Arbeit. Arbeitslosigkeit gab es nicht, keine jungen Menschen, die sich wegen ihrer eigenen Misserfolge schuldig fühlten und sie als persönliche Katastrophe empfanden. Es war Platz für alle. Vielleicht ein wenig knapp, aber für alle.

Generation Sowjet: Ich freue mich, die Unabhängigkeit feiern zu können. Ich habe Lust auf Europa und fühle mich als Teil der großen Pläne dieses Kontinents. Als ich klein war, arbeitete meine Mutter für eine Versicherung und mein Vater war Schuldirektor. Wir lebten auf dem Land in der Nähe von Rēzekne. Supermärkte existierten nicht, es gab nur Öl, Salz, Zucker und Brot in schlechter Qualität. Um Milch und Fleisch mussten wir uns selbst kümmern. Nur gesundes Essen - Industrieprodukte gab es nicht. Wir arbeiteten auf den Feldern und melkten die Kühe. An Reisen, wie junge Leute sie heute unternehmen, dachten wir nicht einmal. Wohnraum stellte einem der Staat zu sehr günstigen Preisen zur Verfügung, aber die ganze Familie musste dort leben. Diese Wohnung hatte man dir zugewiesen, Widerspruch war nicht drin. Klein, hässlich und dunkel - das stand dir zu.

Die Arbeit war zwar oft nutzlos, aber alle hatten eine. Es herrschte ein gewisser Egalitarismus nach unten. Ingenieure verdienten weniger als Arbeiter. Der Gedanke einer sozioökonomischen Anerkennung des Proletariats wurde umgesetzt. Mein Vater verdiente weniger als manche Arbeiter in der Fabrik nebenan. Telefon und Medikamente waren gratis.

Du hattest keine Wahl, aber dein Überleben war garantiert. Du musstest nicht wie heute die Mittellosigkeit fürchten. Du wusstest, dass du einmal eine Rente bekommen würdest. Du wusstest, dass der Staat als Gegenleistung für eine fast gänzlich fehlende Freiheit dein Überleben garantierte. Niemand hatte Angst vor der Zukunft. Sie war vielleicht nicht verheißungsvoll, aber auch nicht das Schreckgespenst von heute. Die gewaltigen sozialen Unterschiede, mit denen wir jetzt leben müssen, existierten nicht. Dieses Gefälle zwischen Arbeiter und Manager gab es nicht. Ungehemmter Individualismus existierte nicht, alle waren Teil eines gemeinsamen Plans mit all seinen Grenzen und Schwächen. Aber auch mit all seinen Vorzügen.

Kannst du dich an den 4. Mai 1990 erinnern?

Generation Perestroika: Natürlich erinnere ich mich, ich lag in der Wiege, als das Radio die große Neuigkeit verkündete! Nein, mal ernsthaft: Mich amüsiert der Gedanke, dass auch ich in der Sowjetunion geboren bin. Sie endete, als ich 2 Jahre alt war. Ich bin Lettin und empfinde Lettland als mein Geburtsland. Ehrlich gesagt beschäftigt mich das Thema Sowjetunion nicht sehr. Ich spreche mit meinen Verwandten und Freunden fast nie darüber.

Generation Sowjet: Hätte ich gewusst, dass es sich um ein so wichtiges Ereignis handelte, hätte ich ein Tagebuch geführt. Ich hätte ganz genau eingetragen, wo ich war, mit wem, was ich getrunken habe und warum. Aber das habe ich nicht getan, weil ich es nicht wusste. Natürlich war mir seit 1986 durch die Helsinki-Gruppe (Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, AdR) bewusst, dass die Sowjetunion in einer Krise steckte. Und dann gab es in Polen die Solidarność. Aber ich würde lügen, wenn ich sagte, dass ich es wusste: Man wusste nichts. Ich lebte auf dem Land und erfuhr aus dem Fernsehen, dass über die Unabhängigkeit abgestimmt wurde. Wie hätte ich es sonst erfahren sollen? Handys und Internet gab es ja damals nicht.

Du kannst dir nicht vorstellen, was für eine gewaltige Umstellung das bedeutete. Wir brauchten eine neue Polizei, ein Parlament, eine Verteidigung. Und dennoch gingen die Bürger in jener Zeit regelmäßig arbeiten, ganz normal. Alle meldeten sich mit Ratschlägen zu Wort. Alle wollten an die neue, kleine Republik ran. Sie wollten Macht, bemühten sich, die Unabhängigkeit zu vereiteln. Die Russen beriefen sich auf die sprachliche und kulturelle Nähe, die westlichen Länder auf die Werte der Demokratie und der freien Marktwirtschaft, die sie noch heute so gern besingen.

Ich erinnere mich zum Beispiel an das Problem des Eigentums. Als die Sowjetunion zusammenbrach, besaß fast niemand ein eigenes Haus - man wohnte in dem, das einem zugewiesen worden war. Also stellte der neokapitalistische lettische Staat Karten aus, die einen Nennwert von heute etwa 40 Euro pro Lebensjahr des Bürgers hatten. Mit meinem Vermögen und dem meiner Mutter habe ich mir eine Wohnung in der Nähe des Bahnhofs gekauft. Dort wohne ich noch immer.

Aber die eigentliche Frage ist: Hat sich in unserem Land seit jenem Maitag im vergangenen Jahrhundert viel geändert? Was glaubst du, warum die Akten mit den Namen der KGB-Mitglieder noch nicht geöffnet worden sind? Und die sind nicht in Moskau, die werden in Riga von den behörden unter Verschluss gehalten. Im Parlament heißt es, es sei besser, in einem bereits fragilen Land keine neuen Skandale und Umstürze zu provozieren. Denn es sind noch die gleichen Politiker wie früher an der Macht.

Was ist deiner Meinung nach der größte Unterschied zwischen der Europäischen Union und der Sowjetunion?

Generation Perestroika: Eine schwierige, unerwartete Frage. Ich weiß nicht, was ich sagen soll, ein Vergleich fällt mir schwer. Die Systeme sind zu unterschiedlich. Vielleicht die Bewegungsfreiheit, die Möglichkeit, frei zu reisen und zu arbeiten. Und die Demokratie.

Heißt das, dass heute alles besser ist?

Ach, ich weiß nicht. Ich weiß nicht einmal genau, warum du mir Fragen zur Sowjetunion stellst. Ich war nicht dabei. Was ich weiß, stammt aus wirren Erzählungen, die sich stark voneinander unterscheiden. Es gibt die Nostalgiker und die, die alles schlechtmachen. Wie soll ich mir eine eigene Meinung bilden?

Generation Sowjet: Die Freiheit.

Kannst du ein bisschen mehr dazu sagen?

Was möchtest du denn hören? Freiheit ist wichtig! Bei einer Flasche Wein kann ich dir vielleicht noch mehr erzählen.

Super, dann sehen wir uns heute Abend bei dir!

Aber nicht zu lange, denn morgen möchte ich ein wenig radeln. Es soll sonnig werden und Sonne war zu Moskauer Zeiten so selten wie heute zu Brüsseler Zeiten.

In der Tat: Am nächsten Tag scheint die Sonne und es wird unerwartet warm. Das Interview kann nach einer schönen Radtour fortgesetzt werden. 

Wie denkst du über den 9. Mai? Ist es richtig, einen Europatag zu feiern?

Generation Perestroika: Hier feiern viele dieses Datum. Aber es sind auch viele dagegen. In der Stadt haben wir auf einer Seite diejenigen, die Blumen zum Denkmal für die Gefallenen für die Befreiung Europas von den Nazis bringen, und auf der anderen die, deren Angehörige in Sibirien gestorben sind. Auch der Krieg in Afghanistan spaltet die Menschen: Einige gedenken ihrer Helden, die für die Ehre und Größe der Sowjetunion gefallen sind, andere beweinen die Opfer eines sinnlosen Kriegs. Auf dem zentralen Platz hinter der orthodoxen Kirche gibt es ein Denkmal für die Gefallenen des Kriegs gegen die Mudschaheddin (von Dschihad abgeleitet, bezeichnet jemanden, der sich um die Verbreitung oder Verteidigung des Islams bemüht, AdR). Das ist heute voller Rosen. Aber viele leiden auch still in ihren Häusern und zeigen ohne Geschrei ihre Missbilligung dieser Feierlichkeiten. Aber dieses Thema beschäftigt inzwischen nur noch die Alten. Wir jungen Leute - außer einigen russischen Nationalisten oder denen, die gefallener Angehöriger gedenken möchten - nehmen an den Feierlichkeiten nicht teil.

Generation Sowjet: Ich mache da nicht mit. Mein Vater wurde gleich nach der Befreiung durch die Sowjets, die ich als Invasion bezeichne, nach Sibirien deportiert. Dort hat er die besten Jahre seines Lebens verbracht. Der Grund: Er hat im deutschen Militärorchester Cello gespielt. Alle, die Verbindungen nach Deutschland hatten, wurden deportiert. Er war stark und gründete dort ein neues Orchester. Es war in der Nähe von Nowosibirsk, mehr kann ich nicht sagen. Er hat in einem Stahlwerk gearbeitet. Ich habe seine Briefe heute noch. Sie sind alle auf Russisch geschrieben - auf Lettisch waren sie verboten und kamen nicht durch die Zensur.

Story by

Bernardo Bertenasco

Venuto al mondo nell’anno della fine dei comunismi, sono sempre stato un curioso infaticabile e irreprensibile. Torinese per nascita, ho vissuto a Roma, a Bruxelles e in Lettonia. Al momento mi trovo in Argentina, dove lavoro all’università di Mendoza. Scrivo da quando ho sedici anni, non ne posso fare a meno. Il mio primo romanzo si intitola "Ovunque tu sia" (streetlib, amazon, ibs, libreria universitaria)

Translated from Generazione sovietica e generazione europea a confronto