Bio-Gore in CHEW: Comic-Kost mit Biss
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Der vielfach prämierte US-Comic CHEW von John Layman erschien kürzlich auf Deutsch - nicht ganz unpassend nach dem Dioxinskandal Anfang des Jahres in Deutschland. Im Comic spielen sich die abstrusen Fälle des Cops Tony Chu vor dem Hintergrund einer globalen Geflügel-Epidemie ab, die weltweit mehr als 20 Millionen Todesopfer forderte und den Konsum von Geflügel illegal macht.
Ob Büffelmozarella, Gammelfleisch oder Rinderwahn - auch in Europa liest sich Chew bestens als die kulinarische Kritik an unseren Versorgungssystemen.
Auch wenn die Welt in Laymans Comic "nicht ganz die unsere" ist, worauf der deutsche Verlag Cross Cult hinweist, begreift man schnell, warum CHEW Gegenwartslektüre ist. Die taz beschreibt es passend als „Comic zum deutschen Dioxinskandal“. Lesefreunde dürften vor allem Gegner der Chemo-Landwirtschaft sowie Kritiker der Fleisch-Lobby sein.
Die Schlüsselfigur des Comics, CHEW, der Mutant und Sonderermittler Tony Chu, würde sich auf Biomärkten pudelwohl fühlen. Seine besondere Gabe ist es, nachzuempfinden, was sein Essen vor dem Tod erlebt hat. Clou des Comics ist, dass der Leser liest und sieht, was sich vor Tonys innerem Auge abspielt, wenn dieser in Hamburger, Obst oder verwesende Leichteile beißt. Tony ist ein "Cibopath", ein Nahrungsmittel-Telepath. Gänzlich unbesorgt könnte er in einen Muffin beißen und eventuell sogar Fleisch einkaufen. Das liegt daran, dass Biomärkte ausschließlich Produkte aus der ökologischen Landwirtschaft anbieten. Man darf vermuten, dass Steak und Wurst vom Bio-Metzger bei Comic-Figur Tony keine unerträglichen Visionen von Qual verursachen und pestizidfreies Obst keine Belastung für sein seelisches Befinden darstellt. Bio-Lebensmittel haben nämlich den Ruf, besonders "schonend" hergestellt zu werden. In CHEW wird dies auch angedeutet, da Tonys Ernährung zu großen Teilen aus Rote Beete besteht. So entgeht Tony auch dem letzten Quantum Stress, den ein Tier vor seiner Schlachtung empfunden haben mag. Rote Beete hingegen ist fast zu jeder Saison genießbar und kann zu Hause zubereitet werden.
CHEW ist mal sozialkritisch lustig, mal satirisch ekelig. Zum Lachen bringen den Leser zum Beispiel Tonys pingelige Essgewohnheiten, also die lakonische Überzeichnung des boomenden Vegetarismus bzw. Veganismus. Auch das Schicksal von Tonys Bruder, der Moderator einer seichten TV-Kochsendung war, bevor er live ausrastet, die Regierung beschimpft und daraufhin gefeuert wird, macht Lust auf mehr kritischem Humor. Nicht zuletzt ist der Lebensmittelskandal der Auslöser vieler humoristischer Botschaften, wie beispielsweise die Erfindung einer Geflügel-Mafia, deren Schmuggel von Hähnchenkeulen über Leichen geht.
Zwischen Horror und Gore befinden sich die zeichnerisch hochwertigen Abbildungen von Leichenteilen und Körperflüssigkeiten. Tonys Visionen spiegeln anschaulich die Realität der US-amerikanischen Schlachtindustrie wider. Generell besteht die Comicwelt aus lauter kränkelnden, fast zombieähnlich blassen Personen, die der Geflügel-Epidemie entkommen konnten.
Wahrscheinlich aus Angst vor einem Flop sieht man in CHEW nicht nur Tiere sterben, sondern auch wie Menschen von Geschossen durchlöchert oder fliegenden Hackebeilen verletzt werden. Die Verwendung solcher Stilelemente hat zur Folge, dass versteckte Kritik sowohl an der Lebensmittelindustrie als auch am Veganismus oft von Genre-Spielereien, Splattereffekten und simplem Ekelgefühl übertrumpft wird.
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Der Erfolg der Öko-Industrie ist sicher als Reaktion auf die zahlreichen Lebensmittel-Skandale der Vergangenheit zu verstehen. Alles begann mit der Rinderseuche, BSE. Dann folgten Schweinegrippe, Influenza H5N1, der Büffelmozzarella-Skandal in Italien sowie jüngst der Dioxin-Skandal in Deutschland. Konsumenten sind zurecht wählerischer und kritischer geworden. Auch wenn es die Supermarkt-Ketten schaffen, solche Skandale in ihren Einkaufshallen zu kaschieren - mit einem grünen Image, Freilandeiern und vergrößertem Bioangebot - bleibt vielen Konsumenten immer häufiger ihre Nahrung im Halse stecken.
Sicher ist CHEW grundsätzlich auch eine Kritik an blinder Panikmache, doch das Horrorszenario einer globalen Tierfleisch-Epidemie wird indes von vielen Experten und Kommentatoren ernst genommen, wie zum Beispiel in Jonathan Safran Foers Eating Animals (Tiere essen). Wenn Laymans Comic die Antwort auf den Dioxinskandal ist, könnte man sie in Hinblick auf Frankreich auch als Warnung vor giftigem Fastfood-Fleisch verstehen, an dem ein 14-jähriger Junge aus Avignon im Februar verstarb.
Fotos: ©http://chewcomic.blogspot.com/