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Tunesien: Ein Land erwacht

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Anna Karla

Politik

Tunesien erlebt seinen ersten Frühling nach dem Ende der Diktatur. Wie es weitergehen wird, weiß keiner. Überall aber ist die Hoffnung auf einen Neuanfang zu spüren.

Sie stehen auf dem Mittelstreifen der Avenue Habib Bourguiba beisammen, auf der Höhe zwischen Stadttheater und Hotel International: Männer in schwarzen Lederjacken, in Anzügen, Familienväter mit Einkaufstüten, einige Frauen, manche mit und manche ohne Kopftücher, Kinder, etwa fünfzig Menschen. Um sie herum bieten junge Männer Popcorn und gebrannte Mandeln feil. Polizisten regeln das übliche Verkehrschaos. Im Schatten der Straßenbäume stehen sie, diskutieren und gestikulieren. Heute geht es um Gaddafi, die UNO-Resolution und die Luftangriffe auf Tripolis. Und wie immer seit dem 14. Januar geht es um Tunesien, um die Vergangenheit, um den Diktator, den man verjagt hat und um die Zukunft des Landes, die nun gestaltet werden will. Die „Agora“ nennen die Tunesier den spontanen Versammlungsort im Herzen ihrer Hauptstadt.

Tunis

Die Spuren der Revolution

Noch vor vier Monaten war in Tunis eine Ansammlung von mehr als einer Handvoll Menschen im öffentlichen Raum undenkbar. Heute begegnen einem in der Innenstadt an allen Ecken die Spuren der Revolution. „Die glorreiche Revolution vom 14. Januar 2011“ hat jemand auf arabisch auf eine Litfaßsäule geschrieben. Ein achtjähriger Junge posiert vor dem Spruch, macht ein Victory-Zeichen, lächelt. Seine Eltern bitten um ein Foto: Journalisten sind in der Hauptstadt der Revolution neuerdings herzlich willkommen.

Der Platz rund um die turmhohe Uhr am Ende der Avenue heißt jetzt „Mohammed Bouazizi“ - nach jenem jungen Mann, der sich am 17. Dezember 2010 in der Kleinstadt Sidi Bouzid selbst anzündete und damit das ganze Land in Brand steckte. An Häuserfassaden und Bauzäunen haben die Tunesier ihre Wut und ihre Hoffnungen festgeschrieben. „RCD out“ steht dort in großen Lettern, „Freiheit oder Tod“, „Thank you Facebook“ und „Die tunesische Frau ist frei und wird es bleiben“.

"Victory", Avenue Habib Bourguiba/Tunis

Die Zeitungsbuden und Buchläden haben aufgerüstet. Unter Ben Ali hatte es im Land fast keine ausländische Presse gegeben. Heute ist der Ansturm so groß, dass man früh aufstehen muss, um noch eine aktuelle Ausgabe von Le Monde oder von der französischen Satirezeitung Le canard enchaîné zu ergattern. In der Buchhandlung El Kitab auf der Avenue türmen sich brandneue Enthüllungsromane und Bücher, die längst vergessen schienen, weil die Zensur sie nicht ins Land gelassen hatte. Sie tragen nun rote Bauchbinden: „Den 14. Januar verstehen“. „Wer war Mohammed Bouazizi?“

Avenue Habib Bourguiba/Tunis

Zukunft: ungewiss

Tunesien: Straßenkampf und Cyberkrieg gegen die Diktatur

Noch stehen Panzer auf der Avenue Habib Bourguiba. Das Gebäude des verhassten Innenministeriums ist mit Stacheldraht umzäunt. Auf dem Platz der Kasbah, am westlichen Ausgang der Altstadt, patrouillieren Soldaten. Hier hatten die großen Demonstrationen gegen die Übergangsregierung stattgefunden. Sie dauerten an, bis auch der letzte Scherge des alten Regimes seinen Hut genommen hatte. Hier waren Ende Januar die Menschen aus der Provinz eingetroffen, die zu Fuß bis zur Hauptstadt marschiert waren, um sich ihre Revolution nicht aus der Hand nehmen zu lassen. Die spontanen Zeltlager sind mittlerweile fast alle wieder abgebrochen, die Menschen sind nach Hause zurückkehrt. Aber die Erinnerung an die „Leute von der Kasbah“ ist geblieben. Dass man sie nicht vergessen darf, wenn aus dem Land eine Demokratie werden soll, wissen alle. Doch in der im Landesvergleich wohlhabenden Hauptstadt geht auch die Angst um: Vor den Islamisten, vor den Kommunisten und vor unkontrollierbaren Horden von Jugendlichen, die politische Diskussionsrunden auch einfach niederbrüllen können.

Das Schwerste ist geschafft

Bis zur Demokratie ist der Weg noch lang. Für den 24. Juli sind Wahlen zu einer verfassungsgebenden Versammlung angesetzt. Erst dann wird entschieden, welche Verfassung sich das neue, das demokratische Tunesien geben wird. Und erst diese Verfassung wird festlegen, nach welchen Regeln das Parlament und die Regierung gewählt werden. Rund fünfzig Parteien wurden offiziell schon zur Wahl zugelassen, jeden Tag werden es mehr. Bis zum Sommer müssen sie Strukturen aufbauen, Werbung machen und Wähler mobilisieren. Bis dahin könnte aber auch, wie viele befürchten, die islamische Partei Ennahda immer mehr Sympathisanten gewinnen und aus den Moscheen Orte der Politik machen.

Doch so ungewiss die Zukunft Tunesiens ist, in einem sind sich alle einig: Das Schwerste ist geschafft. Die Angst ist besiegt. Egal wie es weitergehen wird: Die Freiheit, die sie sich so hart erkämpft haben, werden die Tunesier sich nicht so leicht nehmen lassen.

Fotos: ©Anna Karla/ HP Ben Ali Poster (cc)Crethi Plethi/flickr

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