Palästina: Eine Woche in Nablus
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Theresa Stepanik[KOMMENTAR] Renaud Arents ist 30 Jahre alt und Sozialarbeiter. Die letzten sechs Jahre hat der Franzose in Spanien gelebt und gearbeitet. Nun absolviert er ein "Erasmus+"-Praktikum in Nablus, Palästina. Auf seinem Blog erzählt Renaud von seinen Erfahrungen und davon, wie er über die Arbeit und das Leben in Palästina denkt.
Kannst du dir Palästina vorstellen? Ja? Nun, ich kann dir sagen, dass es nicht so aussieht, wie du es dir gerade vorstellst, sondern eher so wie das, was du siehst, wenn du einen Blick aus deinem Fenster wirfst. Nablus ist eine zweitausend Jahre alte Stadt, die eingebettet zwischen zwei Hügeln - Ebal und Gerizim - liegt. Es leben ungefähr 150 000 Menschen in Nablus. Seit 1967 wird die Stadt von den Israelis besetzt. Irgendwie erinnert mich die Stadt an Granada in Spanien, an deren arabische Prägung, hügelige Landschaft und schmale Straßen. Hier gibt es sogar eine Straße, die Gharnata heißt.
Alltagsleben
Wenn ich durch Nablus spaziere, fühle ich mich sicher. Es ist fast so, als wäre ich in einer Umgebung, die ich bereits kenne. Allerdings gibt es kleine Unterschiede. Die Menschen sind freundlich und hilfsbereit, viel mehr, als ich es von anderswo kenne. So laden sie mich zum Beispiel ein, mit ihnen beisammen zu sitzen, Tee zu trinken und mich mit ihnen zu unterhalten. Sie helfen mir weiter, wenn ich irgendwo hin muss. Sie grüßen mich, wenn wir uns sehen. Genau genommen habe ich hier mehr Menschen getroffen, die Englisch sprechen, als in Spanien, wo ich sechs Jahre lang gelebt habe.
Nablus ist eine lebendige Stadt. Dauernd ist etwas los. Taxifahrer stehen ununterbrochen auf der Hupe. Die Menschen scheinen immer irgendwo hin zu eilen, zur Schule, zur Universität oder auf die Arbeit. Das Zentrum der Altstadt hat schmale Gassen voller kleiner Geschäfte. Darunter sind Bäckereien, Seifenfabriken, Fleischhauer, Bars, Restaurants, Tischler, Ateliers von Kunsthandwerkern und noch vieles mehr. Nicht nur in diesem Sinn kann man Nablus als reiche Stadt bezeichnen, sondern auch im Hinblick auf die Wirtschaft und Geschichte. Menschen kommen aus den Dörfern nach Nablus, da man hier alles findet, wonach man sucht.
Religion ist ein wichtiger Aspekt des Alltäglichen. Fünfmal am Tag hallt die Stimme des Muezzins durch die gesamte Stadt. Man hört den Adhan, den Aufruf zum Gebet. Der Gesang ist sanft und beruhigend. Er gefällt mir, mit Ausnahme des Aufrufs zum Gebet um fünf Uhr morgens, der mich tagtäglich aufweckt, weil ich gleich neben einer schönen Moschee wohne.
Die Menschen versuchen, mehr oder weniger normal weiterzuleben. Sie machen das Beste daraus, obwohl das Damoklesschwert stets über ihnen schwebt. Aus diesem Grund ist auch das Projekt Music Harvest entstanden, das ide Kultur in der Region um Nablus am Leben halten soll und bei welchem ich mitarbeite. Ursprünglich war es die Idee einer ausländischen Organisation, welche die Aktion 2010 ins Leben gerufen hatte. Heute wird Music Harvest von Project Hope, einer palästinensischen Organisation, geleitet. An beiden Projekten wirken fest angestellte Mitarbeiter mit, jedoch werden sie von dutzenden ehrenamtlichen Helfern aus Nablus und dem Ausland unterstützt. Einer von diesen ehrenamtlichen Helfern bin ich. Aber im Gegensatz zu den meisten, die Sprachkurse anbieten, organisiere ich hier Musik-Workshops.
Kultur frisch halten
Während meines Aufenthalts nehme ich zweimal pro Woche Arabischunterricht bei Hassan. Das ist eigentlich viel zu wenig. Zudem macht es mir großen Spaß, mit ihm auch Habib al Deek zu lernen. Das ist eine Art Vorfahre der Gitarre. Bereits nach unserem fünfminütigen Kennenlernen hat mich Hassan zu sich nach Hause zu einem köstlichen traditionellen Essen eingeladen und mir ein beeindruckendes kleines Konzert gegeben.
Von den Gerichten in dieser Gegend kann ich nur schwärmen. Ich habe neue Gewürze und Geschmackskompositionen entdeckt sowie tausedn neue Dinge probiert. Ich rate jedem, den Käse aus dieser Region zu probieren, Makuble, ein traditionelles Reisgericht, oder den berühmten Kanafe, ein Gebäck mit Käse. Aber eigentlich bin ich nicht wegen des Essens hier, sondern wegen der Arbeit. Gemeinsam mit einem Praktikanten aus Großbritannien und einem Übersetzer meistere ich die erste Einheit mit Kindern aus einem Gemeinschaftszentrum. Ich denke, es ist gut gelaufen. Weitergehen soll es mit drei anderen Gruppen in einem Jugendzentrum, einem Dorf und in einem Flüchtlingslager.
Ziel ist, Menschen dabei zu helfen, ihr Talent in der Musik besser umzusetzen. Ich werde mein Bestes geben, damit die TeilnehmerInnen und auch ich Spaß in den Workshops haben. Ich werden den TeilnehmerInnen dabei helfen, ihre eigenen Songs zu schreiben und aufzunehmen. Außerdem werde ich Treffen organisieren, bei denen sich die Gruppen, die aus jeweils unterschiedlichen sozioökonomischen Schichten stammen, besser kennenlernen können. Alles in allem ist es hier auch etwas teurer als erwartet. Das hat den Grund, dass Palästinenser doppelt Steuern zahlen, einmal an ihr eigenes Land und einmal an Israel. Zwar gibt es ein paar Produkte aus der Region. Die meisten Dinge müsssen jedoch importiert werden (aus der Türkei, aus China und logischerweise aus Israel). Geschichten und Kampfflugzeuge Nablus vermittelt den Eindruck, als wäre es eine normale Stadt. Jeder lebt sein Leben. Manchmal wird man jedoch eines Besseren belehrt. Israelische Kampfflugzeuge erinnern tagtäglich daran, dass dies ein besetztes Land ist. Die Mauern der Stadt sind übersät mit Protest-Graffiti und Bildern von verstorbenen Freiheitskämpfern.
Die Menschen hier erzählen ihre Geschichten. Sie erzählen davon, dass Israel bestimmt, wer herkommen, wer wieder gehen und wer für wie lange bleiben darf. Man hört Geschichten über die Erniedrigung von Frauen, Männern und Kindern, egal, ob sie Einheimische sind oder aus dem Ausland kommen. Am Flughafen. Bei willkürlichen Straßenkontrollen. Überall. Während dieser Kontrollen werden Dinge beliebig konfisziert.
Es gibt Geschichten über die drei Flüchtlingslager in Nablus, von welchen das Flüchtlingslager Balata das größte Palästinas ist. Dort leben 30 000 Menschen auf einem Viertel-Quadratkilometer. Man hört Geschichten über Menschen, die vor Jahren alles verloren haben und die innerhalb ihres eigenen Landes abgeschoben wurden. Sie leben am Rand der Gesellschaft, ohne jegliche Hoffnung.
Marathon der Mauer entlang in Palästina - 'Wenn ich renne, vergesse ich alles andere'
Man hört Geschichten über Siedler, die Frieden wollen. Oder meinen sie damit ein Stück Land? Geschichten über die Strategien dieser Siedler, um Land einzunehmen. Geschichten über Siedler, die an Flüchtlingslagern vorbeifahren, um auf Kinder zu schießen, weil diese ein paar Steine geworfen haben. Geschichten über Siedler, die Flüsse zu ihren eigenen Siedlungen umleiten und das Wasser, das übrigbleibt, verschmutzen. Geschichten über ehemalige Generäle, die zwanzig Jahre im israelischen Gefängnis verbracht haben. Geschichten über Wasser- und Nahrungsmittelknappheit. Geschichten über lange Zeiten ohne Stromversorgung. Geschichten.
Man hört so vieles und doch ist es manchmal leicht, das Gehörte wieder zu vergessen. Doch die Kampfflugzeuge erinnern schnell wieder daran. Ebenso wie die Schüsse, die man nachts hört.
Translated from Impressions of Palestine: A week in Nablus