Korruption in Rumänien: Die Macht der Wut
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Mandy MummertLetzte Woche versammelten sich mehr als 300 000 Rumänen zu Protesten im ganzen Land, nachdem die Regierung eine Eilverordnung verabschiedet hatte, die das Strafmaß für Korruptionsdelikte verringert. Infolge der größten Kundgebungen seit dem Ende des Kommunismus ruderte der amtierende Ministerpräsident, Sorin Grindeanu, nun zurück. Doch die Rumänen wollen mehr.
„Ein Trauertag für den Rechtsstaat“, so äußerte sich Klaus Iohannis [Nationalliberale Partei, Anm. d. Red.] auf seiner Facebook-Seite. Rumäniens Staatspräsident, der an den jüngsten Kundgebungen teilnahm, kommt nicht über den Beschluss hinweg, den die Regierung von Sorin Grindeanu [Sozialdemokratische Partei, PSD, Anm. d. Red.], dem im Zuge der Parlamentswahlen von Dezember 2016 ernannten Ministerpräsidenten, fasste. Am vergangenen Dienstag verkündete Justizminister Florin Iordache die Verabschiedung einer Eilverordnung, die das Strafmaß für Machtmissbrauch reduziert. Auf die schlagartig einsetzende Bestürzung folgte heftige Wut. Der rumänischen Presse zufolge gingen am letzten Mittwochabend 300 000 Menschen auf die Straße - die größten Kundgebungen seit dem Ende des Kommunismus.
Doch kam ein Aufstand solchen Ausmaßes für die Regierung nicht unerwartet. Sie befand sich bereits seit einiger Zeit im Visier der Demonstranten. Seit zwei Wochen protestierten Rumäniens Bürger gegen eine Reform des Strafgesetzbuches, die eine Entlastung der Gefängnisse vorsieht. Am Sonntag vor einer Woche demonstrierten zwischen 70 000 und 100 000 Menschen in der eisigen Kälte, in der Hauptstadt Bukarest, aber auch in allen anderen Städten des Landes. Dabei erschien das Gesetzesvorhaben auf den ersten Blick legitim, denn Rumänien leidet an einer Überfüllung der Haftanstalten. Allerdings würde eine Änderung der Gesetzestexte zu Straffreiheit bei Amtsmissbrauch führen, wenn der Streitwert weniger als 44 000 Euro beträgt - genau das besagt nämlich das am Dienstag verabschiedete Dekret. Dies könnte zur Begnadigung von 2 500 Häftlingen führen, darunter Politiker, die eine Haftstrafe wegen Korruption absitzen.
Korruption - Feind Nummer eins
Rumänien ist damit zum ersten Mal seit dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder Schauplatz historischer sozialer Bewegungen geworden. Der Kontext in einem Land, das in den letzten Jahren eine Ausweitung des Kampfes gegen die Korruption und eine immer stärker werdende Zivilgesellschaft verzeichnet, ist natürlich ein Anderer.
Unter dem Druck der Europäischen Union hat Rumänien eine unerbittliche Antikorruptionskampagne gestartet. Inbesondere durch die Gründung der DNA (Nationale Antikorruptionsbehörde) konnten Dutzende von korrupten Politikern inhaftiert werden. Auch die sich aktuell an der Macht befindende Sozialdemokratische Partei blieb davon nicht verschont. Der ehemalige Ministerpräsident Victor Ponta wurde wegen Machtmissbrauchs und Steuerflucht unter gerichtliche Aufsicht gestellt, Parteichef Liviu Dragnea befindet sich in einem Strafverfahren wegen Scheinbeschäftigungen. Der Streitwert in diesem Fall wird von der Staatsanwaltschaft auf 24 000 Euro geschätzt. Durch das am Dienstag verabschiedete Dekret könnte er somit dem Gefängnis entgehen. Die am Mittwoch aus der Partei ausgetretene Aurelia Crista erklärte diesbezüglich gegenüber RFI Romania: „Es war eindeutig das Ziel, Liviu Dragnea zu verschonen.“
Auch die Europäische Kommission äußerte ihre Besorgnis. „Der Kampf gegen die Korruption muss vorangehen und darf nicht rückgängig gemacht werden. Wir verfolgen die jüngsten Entwicklungen in Rumänien mit großer Sorge“, erklärten Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und der Erste Vizepräsident Frans Timmermans in einer gemeinsamen Mitteilung. Sie warnten ebenfalls vor einem Rückschritt des Landes auf diesem Gebiet und kündigten an, die Kommission werde die Änderungen in der Gesetzgebung aufmerksam prüfen.
Die öffentlichen Kundgebungen und Versammlungen richten sich nicht nur gegen die Regierung oder das besagte Dekret, sondern vor allem gegen ein verstaubtes und gelähmtes System. Im Gegensatz zu anderen ehemaligen Ländern des kommunistischen Blocks hat Rumänien ranghohe Regime-Mitglieder nie verurteilt, einige von ihnen blieben sogar an der Macht. Viele Menschen sind von den jüngsten Wahlen enttäuscht, da die PSD nach diesen wieder die Mehrheit im Parlament übernehmen konnte. Die PSD wird als eine der Nachfolgeparteien des kommunistischen Apparats angesehen, als eine Partei korrupter Politiker, die ihre Unterstützer vor allem in der älteren Bevölkerung haben soll.
Die Partei ging aus der Revolution von 1989 hervor und wurde von Ion Iliescu gegründet, ein ehemaliger Vertrauter Ceausescus und erster Ministerpräsident der Republik. Jener Ion Iliescu, gegen den vor kurzem Anklage erhoben wurde wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit. Während der Mineriaden, eine Reihe gewaltsamer Proteste des rumänischen Bergbausektors in den 1990er Jahren, hatte er Bergleute dazu aufgerufen, auf Studenten und andere Demonstranten einzuschlagen, die gegen die bestehenden Machthaber protestierten, denen sie den „Diebstahl der Revolution von 1989“ vorwarfen. Die Parlamentswahlen im vergangenen Dezember waren mit der Hoffnung verbunden, durch eine Niederlage der PSD einmal „gründlich auszumisten“. Allerdings verfügte die seit 25 Jahren fest in der Politik verankerte Partei noch über einen großen Rückhalt in der Wählerschaft.
Straße und Internet - Hochburgen der Opposition
Der Kampf gegen die Korruption und das System ist ohne die Unterstützung der Zivilgesellschaft und Bürger nicht möglich. Die Zivilgesellschaft machte insbesondere 2012 und 2013 mit Demonstrationen gegen die Gesundheitsreform und ein Bergbauprojekt in Rosia Montana auf sich aufmerksam. Es entstanden Organisationen und neue Investigativmedien, so wie Rise Project oder auch Casa Jurnalistului. Die zivilgesellschaftliche Gegenmacht war nicht mehr zu ignorieren. Und die Straße wurde zu ihrer Hochburg. Ein Krankenhausskandal? „Iesim în strada“ („Ab auf die Straße!“). Die Wälder sind bedroht? „Iesim în strada“.
Und das zahlte sich aus: Im Dezember 2013 plante Florin Iordache, damals Vorsitzender der Abgeordnetenkammer, ein Gesetzesvorhaben, das den Abgeordneten Immunität verliehen hätte. Die Gegenwehr der Straße ließ ihn davon Abstand nehmen. Im November 2015, nach der Brandkatastrophe im Club Colectiv mit 60 Toten, bewegten Tausende von Rumänen den Ministerpräsidenten Victor Ponta mit den Rufen „Korruption tötet!“ zum Rücktritt. Der Ministerpräsident war zwar in das Geschehen nicht involviert, aber es gab Beweise dafür, dass Korruptionsfälle indirekt eine Rolle bei der Katastrophe gespielt hatten. Ponta, der selber des Machtmissbrauchs beschuldigt worden war, wurde so zum Symbol eines Giftes, das es auszumerzen galt.
Auch dieses Mal wollten sich die Demonstranten Gehör verschaffen, darunter viele junge Leute der Post-89er-Generation, die ultravernetzt sind. Und sie sind gut organisiert, die Fortführung der Kundgebungen in Bukarest sowie mehreren rumänischen und europäischen Städten war daher rasch auf die Beine gestellt. Im Internet gab es ein Kit für zivilen Ungehorsam, #Rezist, das alle nötigen Informationen für die Durchführung von Protestaktionen sowie die Nummern der Regierungsmitglieder bereithält. Zwei Hotels boten in die Hauptstadt kommenden Demonstrierenden sogar kostenlose Zimmer an. Die Demonstranten wollten mehrere Tage vor dem Regierungssitz verharren, um den Rücktritt der Regierung, die Annullierung des Dekrets und vorgezogene Wahlen zu fordern.
Mit Erfolg! Sorin Grindeanu, der amtierende Ministerpräsident, kündigte nun an, das umstrittene Korruptionsdekret zurückzunehmen. Von einem Rücktritt ist aber keine Rede. Die Rumänen bevölkern also weiterhin die Straßen ihres Landes. Die nächsten Tage werden darüber entscheiden, ob Rumänien den Schritt ins Post-Korruptionszeitalter schafft oder nicht.
Translated from Roumanie : les confins de la colère