Der Geschichte auf der Spur
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Junge Menschen polnischer, ukrainischer, deutscher, türkischer und kurdischer Herkunft fuhren gemeinsam nach Tschechien. Auf der Suche nach der Geschichte und ihrer gemeinsamen Verantwortung für die Zukunft.
„Mir ist es wichtig, dass unterschiedliche Überlieferungen, Erfahrungen und Umgangsweisen mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft ausgetauscht werden“, erklärt Marcus Heer, der Organisator der multikulturellen Gedenkstättenfahrt nach Tschechien.
60 Jahren nach dem Ende des Dritten Reichs erscheinen die Verbrechen der Nationalsozialisten wie aus einer anderen Zeit. Doch diese Ereignisse prägen Europa bis heute, erfuhren die jungen Teilnehmer einer Studienreise des Multikulturellen Forums Lünen hautnah. In Theresienstadt, Lidice und Prag begab sich die Gruppe mit Teilnehmern polnischer, ukrainischer, deutscher, türkischer und kurdischer Herkunft auf Spurensuche.
Lächeln nach Auschwitz
„Unser Alltag war geprägt durch Hunger, Kälte, Krankheiten und die hasserfüllte Demütigung durch die Nazis. Das Leben in den KZs war unmenschlich", erklärt die Überlebende Lisa Mikova. Dass die 84jährige trotz dieser Erlebnisse noch ein Lächeln auf ihr Gesicht zaubern kann, macht sie umso sympathischer. Die gebürtige Pragerin, die eine jahrelange Tortur der Erniedrigung von Theresienstadt über Auschwitz nach Mauthausen durchlebte, stellt sich in Prag den Fragen der jungen Besucher. Erst seit ein paar Jahren spricht sie über diese grausame Zeit. Manche der Teilnehmer in der bunt gemischten Gruppe können die Tränen nicht unterdrücken, andere tauchen in ihr Inneres und grübeln. Später diskutieren die Jugendlichen, wie sie selbst gehandelt hätten. Die kurdischen und türkischen Jugendlichen kommen nicht umhin, die Geschichte der Türkei zu diskutieren, von der Rolle der Religion über den armenischen Genozid bis hin zum Kurdenkonflikt. Aber auch die Globalisierung wird kontrovers erörtert. Sollte Europa nicht mehr Verantwortung gegenüber ärmeren Ländern übernehmen? Die Ungerechtigkeit, da sind sich alle einig, hat viele Facetten.
Trügerische Idylle
Von Prag nach Theresienstadt und Lidice. Sonnenschein und eine anmutige Landschaft verleihen diesen Orten, wo einst nationalsozialistische Barbarei wütete, eine trügerische Idylle. „Als ob diesen Orten ihre Unschuld wieder gegeben werden soll“, sinniert der 22jährige Sezer Icli. Nach 60 Jahren ist diese Reise für die jungen Besucher eine der letzten Möglichkeiten, die Geschichte der grausamen Geschehnisse direkt von Überlebenden zu hören. „Nach uns kann niemand mehr eure Fragen beantworten. Dann gibt es nur noch Bücher und Videos“, begründet Frau Mikova ihr schwieriges Engagement als Zeitzeugin.
Das Konzentrationslager von Theresienstadt war Teil des nationalsozialistischen Vernichtungssystems. Es erlangte zweifelhaften Ruhm als „Vorzeigeghetto“, das gelegentlich dem Internationalen Roten Kreuz präsentiert wurde, um Berichte über Gräueltaten in den KZs zu widerlegen. Für die meisten Inhaftierten war das Ghetto in der ehemaligen Garnisonsstadt allerdings lediglich Durchgangsstation in die Vernichtungslager in Polen. Auf der gleichen Fläche, auf der vormals 7000 tschechische Einwohner lebten, fristeten bis zu 60000 Juden ihr Dasein. Lebensmittel waren knapp und über 32000 Menschen verhungerten. Vor allem die Tatsache, dass in den kleinen Zellen die Gefangenen regelrecht eingepfercht worden sind, führt zu ungläubigem Kopfschütteln unter den jungen Teilnehmenden. Über dem Lagertor prangt wie in Auschwitz die zynische Parole "Arbeit macht frei".
Der Racheakt von Lidice
Auf dem Rückweg nach Prag besucht die bunte Gruppe den kleinen Ort Lidice – vielmehr das, was von ihm überhaupt noch zu sehen ist. Maria Kalibová, mit 82 Jahren eine der wenigen Überlebenden, führt die Besucher über das weitläufige Gelände und schildert, was im Juni 1942 geschah. Das Dorf wurde als Vergeltung für das Attentat auf den Nazi-Funktionär Reinhard Heydrich, der ein Jahr zuvor die Einrichtung des Lagers von Theresienstadt veranlasst hatte, dem Erdboden gleichgemacht. Nahezu alle der 503 Einwohner wurden ermordet oder deportiert.
„Die Geschichte des Nationalsozialismus betrifft nicht allein Deutsche“, sagt Marcus Heer, „für junge Menschen, ob mit türkischer, kurdischer, ukrainischer oder russischer Herkunft, ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ebenso bedeutsam.“ Die Teilnehmerin Selda Ilter erlebt die Fahrt als eine Reise zum Verständnis der europäischen Identität: „Der systematisch durchgeführte Mord an den Juden, Zigeunern und anderen Kriegsgefangenen ist ein Teil der deutschen sowie europäischen Erinnerungskultur. Aus diesem Grund wollten wir uns damit auseinandersetzen.“
Für Alexej Ryshkin, Teilnehmer mit ukrainischen Wurzeln, ermöglichen die verschiedenen Perspektiven auf die Geschichte einen gemeinsamen Lernprozess: „Trotz unserer unterschiedlichen Herkunft haben wir eines gemein: die Verantwortung gegenüber der Demokratie und gegenüber menschlichen Werten.“