Der Fall Niang Mor: „Fast“-Abschiebung nach 19 Jahren in Europa
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Jeannette Carolin CorellNiang wohnt in Mensa Matellica, einem kleinen Ort in der ländlichen Umgebung von Ravenna, wo außer ihm auch viele andere afrikanische Einwanderer leben. 2009 war ein hartes Jahr für ihn: Er verdiente weniger, zum einen wegen der allgemeinen Krise, zum anderen, weil er für einige Monate nach Senegal zurückkehrte, um seine sterbende Mutter zu pflegen. Nach seiner Rückkehr nach Ravenna, wo er inzwischen zu Hause ist, wo auch sein Bruder lebt und wo er viele Freunde hat, beantragte er im vergangenen September die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis. Das Gesuch wurde jedoch abgelehnt - wegen unzureichendem Einkommen - und er wird aufgefordert, innerhalb von 15 Tagen das Land zu verlassen. „Ich lebe hier seit 19 Jahren, habe immer gearbeitet, Steuern bezahlt und hatte nie Probleme mit der Justiz. Und mein Bruder hat mir geholfen, während er selbst Arbeit suchte. Wie kann es sein, dass ich nun als „Illegaler“ abgeschoben werden soll?“, fragt Niang.
Er beschließt zu bleiben. Die Polizei macht ihn ausfindig und am Morgen des 2. November begibt er sich gemeinsam mit einem Freund ins Polizeipräsidium, um seine Position gesetzlich zu regeln. Um 14.00 Uhr raten die Beamten seinem Begleiter, nach Hause zu gehen, weil die „Angelegenheit länger dauern“ würde, geben aber keinerlei Auskunft über Niangs Schicksal. In Wirklichkeit erstellen sie in dieser Zeit die Dokumente für die Ausweisung und der Präfekt unterzeichnet die Verfügung, um ihn noch am gleichen Tag abzuschieben. Um 16.00 Uhr setzen sie ihn in einen Polizeiwagen und sagen ihm, er würde weggebracht, in Abschiebegewahrsam. Niang fehlt sogar die Kraft zum Sprechen, er ist allein, kann niemanden anrufen, seine Verwandten und Freunde wissen nicht, was ihm gerade widerfährt: Ohne Geld befindet er sich auf einer Reise ins Ungewisse.
Ein Monat Abschiebegewahrsam in Gorizia
Um 20.30 Uhr kommt er im Schubhaftzentrum in Gorizia an. Man händigt ihm die Identifikationskarte Nr. 114 aus und nimmt ihm alle persönlichen Gegenstände weg: sein Fotohandy, seine Uhr und sogar sein Gris Gris, sein Glücksamulett und wichtigstes Andenken an die Lieben daheim in Senegal. Nichts von all dem wird ihm zurückgegeben, man überlässt ihm lediglich ein altes Handy. Damit ruft er einen Freund an, der sich seinerseits mit einem Anwalt in Verbindung setzt.
„Sie bringen mich weg, ich weiß nicht wohin.“
Niemand sagt ihm, wie lange er in dem Zentrum bleiben muss, es heißt „zwischen drei Tagen und sechs Monaten“. Das Schubhaftzentrum ist überfüllt aber sauber. Das Essen ist schlecht, sehr schlecht, und in kurzer Zeit nimmt Niang drei Kilo ab. In der Zwischenzeit vereinbart sein Anwalt einen Termin beim Friedensrichter, um den Fall vorzubringen. Die Verhandlung wird für den 3. Dezember anberaumt, aber am Tag davor wird Niang um 1.00 Uhr in der Nacht geweckt und aufgefordert, sich sofort für die Abreise bereit zu machen. Zu dieser Stunde ist der Anwalt nicht erreichbar, aber es gelingt ihm, einen Freund zu benachrichtigen: „Sie bringen mich weg, ich weiß nicht wohin.“
Nach Malpensa zur Abschiebung
Im Auto wird ihm gesagt, dass es nach Mailand geht. In seinem Kopf wächst die Angst vor der Abschiebung, die zur quälenden Gewissheit wird, als das Fahrzeug vor den Toren der lombardischen Regionalhauptstadt die Straße zum Flughafen Malpensa einschlägt. Nach kurzer Zeit befindet sich Niang allein in einem kleinen Wartesaal des Mailänder Flughafens. Vor seinem geistigen Auge laufen 19 Jahre in Italien wie ein Film vorbei. Er denkt an seinen Bruder, seine Freunde, die in Ravenna bleiben, an sein reines Gewissen, sich stets korrekt verhalten und einen Beitrag zur Entwicklung des Landes geleistet zu haben, das Empfinden der Ungerechtigkeit, wie eine „Akte“ behandelt zu werden, die ohne jede menschliche Regung einfach „bearbeitet“ wird.
Seine Hände werden mit einer Plastikschnur gefesselt: „Jetzt geht’s nach Senegal“, sagen ihm die Beamten, die ihn aus dem Wartesaal bringen. Im Korridor platzt ihm der Kragen: „Ich bin kein Illegaler!“, schreit er und hält sich mit aller Kraft an einem Eisengitter fest. Es wird Verstärkung gerufen. „Ich kehre nicht nach Senegal zurück!“, aber die Beamten behalten die Oberhand und schleifen ihn in den Wartesaal zurück. Dort bekommt er zwei Beruhigungsspritzen, wird an Handgelenken, Knien und Fußgelenken mit Klebeband gefesselt, wie ein Bündel zusammengepackt und auf einen Kleintransporter geladen. Am Flugzeug angekommen, tragen sie ihn - noch immer wie ein Bündel - die Gangway hinauf und setzen ihn mit weiterhin gefesselten Händen, Knien und Knöcheln auf einen Sitz.
Niang kann nicht aufgeben und die Bitten der Beamten, sich doch zu beruhigen, bleiben ungehört. Er schreit und windet sich, bis er die Aufmerksamkeit der anderen Passagiere und des Piloten auf sich zieht, der sich weigert zu starten, weil die Flugsicherheit in Gefahr ist. Niang werden Knie und Knöchel befreit und er darf das Flugzeug verlassen: „um zu gehen, auf meinen eigenen Beinen, als freier Mann“.Epilog in Ravenna
„Das war der unglaublichste Tag meines Lebens“, sagt Niang. Er erzählt seine Geschichte amüsiert abwechselnd auf Deutsch, Englisch und Französisch, wie in einer Art Wettkampf, wer mehr Sprachen kann, den ich kläglich verliere. Der Ausgang der Geschichte ist aus den jüngsten Nachrichten bekannt: Die Stadt Ravenna stellt sich schützend vor ihn. 1.500 Personen demonstrieren für seine Sache, die Verfügung über die Abschiebung wird wegen Verfahrensverstoß ausgesetzt und nun heißt es auf die gesetzliche Regelung warten.
Translated from Il caso Niang Mor: cronaca di un'ordinaria "quasi" espulsione