Türkischer Frühling in Izmir: Überall ist Taksim
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Seitdem am vergangenen Freitagnachmittag der von Demonstranten besetzte Gezipark in Istanbul gewaltsam geräumt wurde, befindet sich die Türkei im Ausnahmezustand.
Aus dem Protest gegen eines der zahlreichen großen Bauprojekte Istanbuls ist eine nationale Protestwelle hervorgegangen, die sich gegen die autoritäre Politik der konservativen Regierungspartei AKP und insbesondere gegen Ministerpräsident Erdoğan richtet.
Ein Artikel von: Lea Schrenk
Die Proteste in Istanbul richteten sich ursprünglich gegen die Bebauung des Geziparks. Dieser ist weder besonders groß noch schön. Es handelt sich aber immerhin um eine der letzten verbleibenden Grünflächen in der 14-Millionenstadt Istanbul. Geplant war hier im Zuge der Neugestaltung des Taksimplatzes, einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt Istanbuls, der Wiederaufbau einer historischen osmanischen Kaserne. Diese sollte unter anderem für Luxusappartements und ein Einkaufszentrum genutzt werden. Damit steht der Gezipark in einer Reihe von Großbauprojekten der Istanbuler AKP-Regierung, die über die Köpfe der Bevölkerung hinweg beschlossen wurden. Zugunsten der Bauarbeiten am Taksimplatz wurde im Vorfeld bereits das 1884 erbaute Emek Sineması, das älteste Kino Istanbuls, abgerissen. Auch der Bau der neuen Bosporusbrücke oder des dritten Internationalen Flughafens der Stadt sind umstritten. Dennoch bestand für die Regierung bislang offensichtlich keine Veranlassung, Experten, Anwohner oder Interessengruppen in ihre Entscheidungen einzubeziehen.
Überall ist Taksim
Um die Fällung der Bäume innerhalb der Parkanlage zu verhindern, hatten sich in der vergangenen Woche Protestierende im Gezipark versammelt. Am Freitagnachmittag wurde der Park dann brutal von der Polizei geräumt. Besonders durch den massiven Einsatz von Tränengas und Wasserwerfern wurden zahlreiche Menschen verletzt. Amnesty International geht mittlerweile von über 1500 Verletzten und zwei Toten allein in Istanbul aus, während offizielle Regierungsstellen nur 143 Verletzte bestätigen. Videos zeigen, wie das Tränengas direkt in die Gesichter der Protestierenden gesprüht wurde. Zahlreiche Demonstranten erlitten außerdem Verletzungen, als sie von Gaskartuschen getroffen wurden.
Mittlerweile beschränkt sich der Protest nicht mehr auf Istanbul. Bereits in der Nacht von Freitag auf Samstag gab es in anderen Städten wie Ankara und Izmir Demonstrationen. Mit der Hilfe von sozialen Netzwerken, vor allem von Facebook und Twitter, wurden in kürzester Zeit tausende Menschen mobilisiert, die ihre Solidarität mit den Protesten in Istanbul und ihr Entsetzen über das brutale Vorgehen der Istanbuler Polizei äußerten. Unter dem Schlachtruf „Überall ist Taksim“ wurde bis in den Morgen demonstriert.
Erdoğan macht derweil keine Zugeständnisse an die Proteste, die sich mittlerweile hauptsächlich gegen seine Politik richten. Er stellte die Demonstranten als eine Minderheit dar, die einer demokratisch gewählten Regierung ihre Meinung aufzwingen wolle und drohte sogar mit dem Geheimdienst, „der inländischen und ausländischen Gruppen“ auf der Spur sei, mit denen dann „abgerechnet werde“. Soziale Medien stellte er gegenüber dem britischen Guardian als „schlimmste Bedrohung der Gesellschaft“ dar. Außerdem bezeichnete er die Proteste als Provokation der Oppositionspartei. Währenddessen fordern die Protestierenden lautstark seinen Rücktritt.
Zeichnen gegen Erdoğan: “Gott beschützt kleine Kinder und Comiczeichner!”
Der Politikstil des Ministerpräsidenten wird von vielen Bürgern besonders der großen westlicheren Städte als Bedrohung empfunden. Er steht für eine Re-Islamisierung der laizistischen Türkei. In seiner Regierungszeit wurde beispielsweise 2008 das jahrzehntelang untersagte Tragen von Kopftüchern in Universitäten wieder erlaubt. Außerdem verabschiedete das Parlament vor kurzem ein Gesetz, welches den Verkauf von Alkohol einschränkt. In Izmir, einer der Hochburgen der kemalistischen CHP, fürchten gerade junge Leute das Erstarken der AKP bei den diesjährigen Kommunalwahlen und eine damit einhergehende konservative Wende. Immer wieder ertönt hier der Schlachtruf:„Wir sind Mustafa Kemals (Atatürks) Soldaten!“ als Zeichen der Verbundenheit mit dem Staatsgründer und seinen säkularen Idealen.
Politisch trinken
An den Protesten beteiligen sich hauptsächlich junge Leute. Aber auch Familien und ältere Menschen nehmen an den Demonstrationen teil. Viele, die nicht mitmarschieren wollen oder können, zeigen ihre Solidarität, indem sie von ihren Balkonen herab auf Töpfe oder Pfannen im Takt der Protestlieder schlagen. Interessanterweise dient auch das Trinken von Bier in der Öffentlichkeit als Zeichen des Widerstands. Was allgemein in der Türkei bislang eher unüblich war, bekam durch die neue Gesetzgebung für den Ausschank von Alkoholika auf einmal eine politische Konnotation.
Das Ausmaß der Proteste besonders in Bezug auf die Eskalation der Gewalt unterscheidet sich in den verschiedenen Stadtteilen zumindest in Izmir deutlich. Während im Wohn- und Studentenviertel Bornova friedlich demonstriert wird und es zu keiner Konfrontation mit der Polizei kommt, ist die Stimmung im zentralen Ausgehviertel Alsancak auf beiden Seiten sehr angespannt. Die Proteste schlagen hier immer häufiger in Gewalt um. Die Polizei scheint dabei vor allem auf die Demonstration von Stärke zu setzen. Immer wieder werden willkürlich friedliche Demonstranten angegriffen. Außerdem gab es zahlreiche Festnahmen.
Allerdings kommt es auch auf Seiten der Demonstranten zu Ausschreitungen. Banken werden angezündet, Steine auf Polizisten geworfen und auch die lokale Parteizentrale der AKP wurde mit Brandsätzen attackiert. Die Polizei antwortet mit Tränengas, Pfefferspray, Wasserwerfern und direkter körperlicher Gewalt. Viele Menschen verurteilen daher diese Ausschreitungen von Seiten der Demonstranten, die sowohl der Polizei als auch der Regierung Gründe für ein härteres Durchgreifen liefern und damit den ursprünglichen Zielen der Demonstrationen schaden.
Türkischer Frühling?
Was nun aus den Protesten hervorgeht, ist unklar. Eine Protestwelle, die über die Hälfte der türkischen Provinzen erfasst hat, wird sich nicht so leicht beenden lassen. Die massive Polizeigewalt schüchterte die Menschen bislang nicht ein. Im Gegenteil, jede Ausschreitung der Staatsgewalt wird dokumentiert und über das Internet verbreitet, um zu zeigen, dass die Proteste gegen die autoritäre Regierung, die statt auf Dialog auf Gewalt setzt, fortgesetzt werden müssen.
Ob die Aufstände allerdings zu dem vielerseits erhofften „türkischen Frühling“ führen, wird die Zukunft zeigen. Auf jeden Fall ist das Bild der Vorzeigedemokratie Türkei angekratzt. Dass gegen hunderte von kritischen Journalisten Verfahren laufen und die Türkei im Press Freedom Index auf Rang 154 (hinter dem Irak) landete, war bereits international bekannt. Aber die Fotos und Videos, die von den Protesten am Taksimplatz um die Welt gehen, zeigen eindrücklich, wie es hier unter Erdoğan um die Meinungsfreiheit und Demokratie bestellt ist.
Autor: Lea Schrenk; Illustrationen: Fotos ©Denise Wiegner; Video (cc)Sanat Karavanı/YouTube