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Milli Görüs sind doch keine Islamisten

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Islam in Europa

Seit langem versucht Milli Görüs sich vom Vorwurf des Extremismus zu befreien. Nun hat das Bundesverwaltungsgericht der türkischen Religionsgemeinschaft Recht gegeben und dem Verfassungsschutz untersagt, sie als islamistisch zu bezeichnen. Grund genug, sich einmal näher mit dem Verband zu befassen. Sonntag 1.

Juni 2008

Necmettin Erbakan Credit to:mehdimilli/FlickrDie Islamische Gemeinschaft Milli Görüs, mit rund 27.000 Mitgliedern der zweitgrößte islamische Verband in Deutschland, darf seit vergangener Woche nicht mehr als islamistische Vereinigung bezeichnet werden. Das entschied das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig. Der Verfassungsschutz sei verpflichtet, Tatsachenbehauptungen in seinen Berichten zu belegen, oder, sollte dies aus Gründen des Quellenschutzes nicht möglich sein, diese Aussagen zu unterlassen, urteilten die Richter. Zwar hat das Gericht damit die Einschätzung nicht direkt in Zweifel gezogen, wonach Milli Görüs eine Bedrohung der Verfassung ist, doch muss man sich fragen, wie weit eine Einstufung begründet sein kann, wenn sie sich allein auf nicht näher belegbare Behauptungen stützt.

Milli Görüs ist 1995 aus einem 1972 von türkischen Migranten gegründeten Dachverband verschiedener Moscheegemeinden hervorgegangen. Ihr Name wird vielfach als „Nationale Sicht“ übersetzt, die Organisation selbst möchte es aber als „Gemeinschaft der Sichtweise des Propheten“ verstanden wissen. Gegründet wurde Milli Görüs von Anhängern des türkischen Politikers und zeitweiligen Premiers Necmettin Erbakans. Dieser musste, von Justiz und Militär bedrängt, 1999 von der Regierung zurücktreten und führt, nachdem seine vorige Partei verboten wurde, die Saadet Partisi. Sein Ziel ist die Errichtung einer islamischen Staats- und Gesellschaftsordnung, allerdings hat Erbakan in seiner Regierungszeit an den Grundsätzen der türkischen Politik – Laizismus und Westbindung – festgehalten.

Fehlerhafte Übersetzungen sorgen für Kritik

Obwohl Milli Görüs bemüht ist, sich von ihren Wurzeln zu distanzieren, und eine direkte Verbindung zu Erbakan leugnet, rechnet der Verfassungsschutz sie weiter seiner Bewegung zu. Wiederholt hat sich die türkische Gemeinschaft vor Gericht gegen solche Behauptungen zur Wehr gesetzt – und Recht erhalten. So wurde im November 2005 dem Verfassungsschutz Nordrhein-Westfalen untersagt, gewisse Vorwürfe zu wiederholen. Nicht nur damals musste der Inlandsgeheimdienst Ungenauigkeiten bei der Recherche eingestehen. Fehlerhafte Übersetzungen, falsche Zuweisungen, aus dem Kontext gerissene Zitate stießen auch in anderen Fällen auf Kritik.

Noch immer fällt es dem Verfassungsschutz schwer, konkrete Belege für ihre Vorwürfe zu finden. Liest man in dem aktuellen Bericht aus Baden-Württemberg den 15-seitigen Abschnitt zu Milli Görüs, bleiben die Vorwürfe eher vage. Zwar belegen die aus Zeitschriften und anderen Publikationen entnommenen Zitate den Anspruch der Bewegung, die Anhänger in ihrem Glauben zu festigen, den Islam in Europa zu verbreiten und die eigene Kultur zu bewahren, um der befürchteten Assimilierung zu widerstehen, doch ein Beleg für politische Ambitionen fehlen. Zudem stammen die meisten Belege aus der Milli Gazete, einer Zeitschrift, die nicht eindeutig der Organisation zugerechnet werden kann.

Zweifel an der Glaubwürdigkeit sind zulässig

Liest man die Internetseite der Gemeinschaft, finden sich überhaupt keine Ansatzpunkte, um den Vorwurf der Verfassungsfeindlichkeit zu begründen. Sicher sind einige Ansichten sehr konservativ, aber weder in ihrer Selbstdarstellung, noch in ihrer Islamauslegung, weder in ihren politischen Standpunkten noch in den abgedruckten Freitagspredigten lassen sich die Vorwürfe der Verfassungshüter begründen. Im Gegenteil: Es finden sich Bekenntnisse zur Gleichheit der Geschlechter, zur Gewaltfreiheit, zur Integration, zur Transparenz und zum Dialog der Religionen. Ingesamt erscheint Milli Görüs auf dieser Seite als eine moderate, moderne und offene Bewegung.

Alles nur Schein, sagt der Verfassungsschutz. Es herrsche ein doppelter Diskurs, denn neben der öffentlichen, lichten Seite, gebe es eine versteckte, dunkle Seite, wo das Verhältnis zu Gleichberechtigung, Demokratie oder Gewalt weit weniger eindeutig ist. So problematisch ein solcher Vorwurf grundsätzlich ist, so erscheint er im Fall von Milli Görüs nicht völlig abwegig: Gibt man im Suchfeld auf der Internetseite „Erbakan“ ein, erscheint kein einziger Treffer, obwohl Erbakan erwiesenermaßen bei der Gründung Pate stand. Wenn eine Organisation sich die Realität so zurechtbiegt, wie andere sie sehen sollen, sind schon einige Zweifel an ihrer Glaubwürdigkeit berechtigt.