Julien Bayou von Jeudi Noir: „Wohnungsnot ist ein europaweites Problem“
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IÜD - Uni HeidelbergEs war nicht die erste Hausbesetzung, mit der Jeudi Noir (zu dt. schwarzer Donnerstag) in Paris von sich reden machte. Die Gruppe, die gegen die schlechte Wohnsituation in Paris kämpft, hat bereits Erfahrungen im Squatten. Zunächst an der Place de la Bourse, besetzten Jeudi Noir anschließend das mondäne Stadthaus „La Marquise“, das sich am todschicken Place des Vosges befindet.
Zu Beginn des Jahres hatte das Kollektiv ein Gebäude der Versicherungsgesellschaft Axa besetzt, das seit vier Jahren leer steht. Im Februar folgte dann die Zwangsräumung. Interview mit Gründungsmitglied Julien Bayou.
cafebabel.com: Wie entstand die Idee, ein Bürogebäude ganz in der Nähe des Élysée-Palastes zu besetzen?
Julien Bayou: Jeudi Noir hat seit Ende 2006 ein Auge darauf geworfen. Wir wollen mit dieser symbolträchtigen Einnahme die schlechte Wohnsituation anprangern. Wenn man ein Gebäude im 19. oder 20. Arrondissement (Pariser Stadtbezirke) besetzt, interessiert das kein Schwein. Es geht uns immer darum, unsere Meinung deutlich zu machen. Mit der Rue de la Banque an der Place de la Bourse haben wir angefangen. Danach haben wir ein Jahr lang „La Marquise“ am Place des Vosges besetzt. Es war ein Fehler, uns eine Woche vor der trêve hivernale (die „winterliche Schonfrist“, in der in Frankreich keine richterlichen Urteile zur Räumung von Gebäuden vollstreckt werden dürfen, A. d. Ü.) rauszuwerfen. Ende Dezember 2010 haben wir erneut eine Bestandsaufnahme gemacht, das heißt, dass wir eine Liste mit ungefähr 200 Gebäuden haben, die wir durchgegangen sind. Das Eine ist zu gut überwacht, das Andere zu baufällig, usw. Eines Abends haben wir drei Gebäude inspiziert und sind schließlich hier, in der Avenue Matignon, gelandet. Das Haus stand schon seit dreieinhalb Jahren auf unserer Liste. Die Israelische Botschaft liegt direkt gegenüber, der Élysée-Palast ist gleich um die Ecke. Das Hauptgebäude des Eigentümers Axa wird überwacht, dieses aber nicht.
cafebabel.com: Wie kam diese Liste zustande?
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Julien Bayou: Auch wenn das vielleicht banal klingt, sie entstand beim Herumlaufen durch Paris. Es gibt keine offizielle Liste, die leer stehende Gebäude erfasst. Man erkennt sie vor allem an den blinden Fenstern. Seit ich einen Blick dafür habe, fallen sie mir ständig auf. Wenn ich tagsüber mit dem Roller unterwegs bin und gepflegte, weiße Häuser mit Blumen sehe, weiß ich, die sind schon belegt. Aber wenn eins etwas grauer und schmuddeliger ist, nehme ich es in Augenschein und - zack - steht es auf der Liste.
cafebabel.com: Wie kommt man in so ein Gebäude rein, wenn man sich nicht damit auskennt?
Julien Bayou: In diesem Fall gab es ein elektronisches Schloss, aber die Tür war offen.
cafebabel.com: Wie viele Leute sind heute in dem Gebäude untergebracht?
Julien Bayou: Es gibt insgesamt 24 Zimmer. Vorgesehen sind gut 30 Leute. Die Behörden stehen uns allerdings im Weg. Wir dürfen keine Einrichtungsgegenstände in das Gebäude schaffen. Hätten wir freien Zugang zum Gebäude, wäre bereits alles bestens ausgestattet. Aber wir haben schon Internet, warmes Wasser und Strom. Mittlerweile würden gerne 52 Personen mitmachen und wir bekommen stetig mehr Unterstützung – anfangs waren wir nur zu viert.
cafebabel.com: Gehörst du auch zu den Hausbesetzern?
Julien Bayou: Nein, ich bin anderweitig verpflichtet.
cafebabel.com: Kann man das denn nicht miteinander vereinbaren?
Julien Bayou: Theoretisch schon, aber momentan verdiene ich 1900 Euro Netto im Monat und ein bisschen mehr als die Hälfte davon geht für die Miete drauf. Das ist einerseits sehr viel, aber andere stecken richtig in der Klemme. Man kann auch Hausbesetzer und gleichzeitig Politiker [Julien ist Abgeordneter bei Europe Ecologie; A.d.R.] sein, das ist an sich kein Problem. Ich habe das zweieinhalb Jahre lang gemacht – das ist allerdings sehr anstrengend.
cafebabel.com: Eine Nachbildung von Nicolas Sarkozy liegt für die Passanten gut sichtbar vor dem Eingang des Gebäudes. Was wirft „Jeudi Noir“ der amtierenden Regierung und dem Präsidenten vor?
Julien Bayou: Er ist ein richtiger Lügner. Hätten wir heute einen neuen Präsidentschaftskandidaten, könnte er nicht versprechen, alle Obdachlosen von der Straße zu holen. Sarkozy hat das getan und das war falsch. Niemand würde ihm das übel nehmen, wenn sich die Wohnsituation wenigstens verbessern würde. Aber im Moment kommt alles zusammen: Nicht nur, dass er traumhafte Versprechen macht – denn 70% der Franzosen haben Angst vor dem sozialen Abstieg - er widerspricht sich auch ständig. Nichts als leere Versprechungen. Das ist unverschämt, diese unehrliche, lahme Politik, die uns einfach nicht voranbringt. Die Regierung hat angekündigt 131.509 Sozialwohnungen bereitzustellen, das wäre ein neuer Rekord seit 1980. Die Finanzierung soll über vier Jahre laufen, also von 2010 bis 2014.
cafebabel.com: Richtet sich die Politik Frankreichs ausreichend an die junge Generation?
Julien Bayou: Die Politik ergreift viel zu wenig Maßnahmen, um Unterkünfte für junge Leute zu schaffen. Es wird davon gesprochen Eigentum zu erwerben, dabei brauchen die Leute erst einmal ein Dach über dem Kopf. 23% der jungen Mädchen leben in Armut und ein Viertel der 18 bis 25-Jährigen lebt unterhalb der Armutsgrenze.
Durch die Überalterung der Bevölkerung in Frankreich steigt die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal junger Menschen.
Zusätzlich zur Diskriminierung wegen des Alters, werden Jugendliche aufgrund ihrer Herkunft und ihres Wohnortes diskriminiert. Für einen jungen Typen mit einem komischen Namen, der aus der Banlieue kommt, sinken die Chancen auf dem Arbeitsmarkt um 43%.
cafebabel.com: In Paris gibt es 122 000 leer stehende Gebäude. Gibt es denn solche Wohnungsprobleme nur in Frankreich?
Julien Bayou: Nein, das ist nicht nur ein Problem in Frankreich. In Berlin wird die Lage auch immer ernster, auch wenn dort die Ausgangssituation weniger schlimm ist. Hamburg und Frankfurt sind ebenfalls betroffen. Genauso wie London, aber besonders Spanien - dort ist es richtig übel! Der Bezug zur Lage auf dem Arbeitsmarkt ist offensichtlich. In Spanien gibt es eine Arbeitslosenquote von 20% (bei den Jugendlichen ist diese sogar mehr als doppelt so hoch; A.d.R.), eine geplatzte Immobilienblase und dazu einen nicht vorhandenen Mietwohnungsmarkt. Somit ist Wohnungsnot vorprogrammiert. In Italien sind die Studenten gezwungen, sehr lange bei ihren Eltern wohnen zu bleiben, denn die Voraussetzungen zur Selbstständigkeit sind nicht gegeben. Der Stellenmarkt spielt dabei eine entscheidende Rolle. Ich habe eine Zeit lang in England gearbeitet, wo die Zimmer zwar extrem teuer, die Gehälter allerdings auch höher sind. In Spanien, Italien und in Frankreich ist die Diskrepanz der Gehälter auch sehr hoch. Grob gesagt handelt es sich hierbei also um ein europaweites Problem.
In Frankreich soll das am 8. Februar verabschiedete Gesetz Loppsi 2 (Loi d’orientation et de programmation pour la performance de la sécurité intérieure – Gesetz über Leitlinien und Ausgestaltung der inneren Sicherheit) die Präfekten der einzelnen Regionen zur Ausweisung von Hausbesetzungen, ohne richterlichen Beschluss , ermächtigen. Hausbesetzter müssen mit einer einjährigen Haftstrafe und eine Geldstrafe in Höhe von 15 000 Euro rechnen.
Fotos: ©Sladjana Perkovic; Video: jeudi noir/Daily Motion
Translated from Julien Bayou de Jeudi Noir : « le mal-logement est un problème continental »