Flexible Flotte oder Supertanker Europa?
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Liberal oder Föderal? Erweiterung oder Vertiefung? An Deck der "Europa" streitet man um den Kurs für die Zukunft.
Seit die Verfassung vom Volk über Bord geworfen wurde, treibt der Dampfer Europa ziellos auf stürmischer See. Seine Kapitäne, die 25 Staatschefs, haben sich in zwei Lager gespalten: "Liberale" kämpfen gegen "Föderalisten". Wortführer der "Liberalen" ist Tony Blair, an seiner Seite stehen die zehn neuen Mitgliedsstaaten. Bis Ende Dezember hält Blair als Ratsvorsitzender das Steuer in der Hand. Sein Kurs ist klar: Der Markt muss sich noch mehr öffnen.
Das andere Lager bilden die "Föderalisten", allen voran Deutschland und Frankreich. Sie träumen weiterhin von der politischen Einigung Europas. In einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik soll das "europäische Sozialmodell" verwirklicht werden. Gegen die Öffnung ihrer Arbeitsmärkte wehren sie sich: Übergangsfristen sollen vor anstürmenden Billigarbeitern aus dem Osten schützen, die Liberalisierung von Dienstleistungen soll verhindert werden.
Alle wollen an Bord
Zu allem Überfluss drängeln jetzt noch Bulgarien, Rumänien und Kroatien, ja sogar die Türkei und die Ukraine ins Boot - die EU soll erweitert werden. Viele Föderalisten mahnen an, man solle den Dampfer erst wieder fahrtüchtig machen, die politische Zusammenarbeit vertiefen, bevor man andere an Bord lässt. Denn wenn die EU einmal aus 29 Staaten besteht, hat man 29 Kapitäne, die alle sechs Monate mal ans Steuerrad dürfen.
Den Liberalen macht mangelnde Vertiefung keine Angst. Sie wollen aus Europa keinen schwerfälligen Supertanker machen. So begrüßte etwa der liberale Vordenker und ehemalige EG-Kommissar Ralf Dahrendorf das Scheitern der Verfassung. Denn sie hätte nur die träge Brüsseler Bürokratie mit ihrer Subventionspolitik bestärkt und so den freien Verkehr von Personen, Waren und Dienstleistungen blockiert. Dahrendorf sieht die EU als einen lose verbundenen Club marktwirtschaftlicher Demokratien, in den man getrost Russland und die nordafrikanischen Staaten mit aufnehmen kann.
Vertiefung und Erweiterung
Die Fronten sind klar: Die Föderalisten haben sich "Vertiefung", die Liberalen "Erweiterung" auf die Fahnen geschrieben. Aber kann man Markt und Politik so leichtfertig zu Feinden erklären? Vieles spricht dagegen. Denn anders als Dahrendorf glaubt müsste jeder Liberale schnellere Entscheidungsfindung – also Vertiefung - wünschen. Die EU kommt in der Wirtschaftspolitik deshalb nicht voran, weil jeder Staat mit seinem Vetorecht ängstlich seine Pfründe wahrt. Deutsche und Franzosen schützen so ihre Arbeitsmärkte, die Britten beharren auf ihrem Rabatt. Schränkt man die Macht der Nationalstaaten ein, kann der gemeinsame Markt besser organisiert werden. Erweiterung kann nur dann richtig funktionieren, wenn sie von Vertiefung begleitet wird.
Reißt man die Zollschranken nieder, reicht eine rein nationale Wirtschaftspolitik also bald nicht mehr aus. Die alten Währungen werden überflüssig, es entsteht eine Einheitswährung. Firmen werden mobiler, sie wandern kurzerhand ab, wenn sie in anderen europäischen Ländern günstigere Bedingungen vorfinden. Steuersysteme geraten immer mehr unter Konkurrenzdruck. Viele Bürger fühlen sich durch diese Vorgänge bedroht, denn sie haben keine Möglichkeit, darauf Einfluss zu nehmen. Ohne die Zustimmung seiner Bürger wird ein großer europäischer Markt aber nie funktionieren. Seine Erweiterung muss von der Stärkung demokratischer Institutionen, von Vertiefung begleitet werden.
Scheingefechte
Wenn man nun aber unablässig erweitert und vertieft, Märkte öffnet und die Mitsprache der Bürger stärkt - entsteht dann nicht irgendwann ein monströser "Superstaat"? Tatsächlich reden Föderalisten wie Jacques Chirac und der deutsche Philosoph Jürgen Habermas nur dann von einer starken, politisch geeinten EU, wenn sie den USA auf der Bühne der Weltpolitik die Hauptrolle streitig machen wollen. Für die Liberalen ist eine solche EU eine Horrorvision. Deshalb wollen sie eine weitere Vertiefung verhindern.
Doch auch hier ist der Gegensatz von "Erweiterung" und "Vertiefung" nur ein scheinbarer. Denn anders als Diktaturen können Demokratien die Richtung ihrer Politik ändern. So hat Spanien unter Aznar Truppen in den Irak geschickt und seine Soldaten unter Zapatero wieder abgezogen. Aznar wollte den Einfluss der katholischen Kirche stärken, Zapatero lässt Homosexuelle heiraten. Ist Spanien pro- oder antiamerikanisch? Katholisch oder antiklerikal? Spanien ist eine Demokratie und in einer solchen kämpfen verschiedene gesellschaftliche Strömungen um Einfluss. Deshalb wird auch die EU als demokratischer Bundesstaat nicht automatisch den Konflikt mit den USA suchen.
Die Besatzung der "Europa" sollte die Scheingefechte einstellen. Die 25 Kapitäne müssen in den kommenden Jahrzehnten gemeinsam darüber nachdenken, wie sie ihr Schiff wieder flott machen. Wenn sie dabei scheitern, wird ihr Dampfer im hohen Seegang der Weltpolitik weiterhin kraft- und ziellos umhertuckern.