Dispute over Europe: Welche Zukunft hat Europa?
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Was passiert, wenn Intellektuelle über die Zukunft Europas streiten? Man kann eine Menge lernen – über Geschichte, kulturelle Prämissen und politische Verwicklungen. Nur nicht über die Zukunft Europas. „A Dispute over Europe“ lehrt uns vor allem eins: Diskutieren ist wichtig, aber sicher nicht der Königsweg in die europäische Zukunft.
„Europa ist das beste Angebot. Wenn ich arm, aber bei Verstand wäre, würde ich am liebsten in Europa leben.“ Der Schrifststeller Peter Schneider bringt auf den Punkt, was wohl die meisten Europäer denken: Gibt es einen besseren Lebensmittelpunkt als diese „gebirgige Nase am eurasischen Kontinent“ (Paul Valéry), in der die soziale Marktwirtschaft und eine gemeinsame Wertordnung herrschen, in der soziale Netze greifen und Diversität zelebriert wird? Um vom contrat social, den exakten Wissenschaften, von Rationalismus, Aristoteles, Platon, Voltaire, Nietzsche, Locke, Hume, Rousseau, Hegel und Montaigne gar nicht erst zu sprechen! Spult man ins 21. Jh., vor, ist der europäische Lack allerdings etwas ab. Was folgt auf den „mythischen Triumph der Wendejahre“ und den kurzlebigen „Rausch der Osterweiterung“?
Der peripatetische Keim des intellektuellen Europa
Die Ansatzpunkte jeder intellektuell aufgeladenen Debatte über Europa sind allgemein bekannt: Die Kunst, die Kultur! Die Universalität der Werte! Die himmelhoch jauchzend zu Tode betrübt machende Geschichte! Bei so viel historischem, kulturellem und sozialem Wissen könne Europa doch gar nicht anders, als den Karren auch im 21. Jh. mal wieder aus dem Dreck zu ziehen. Nur wie genau das geschehen soll? Beginnen wir doch bei Sokrates und Platon, bei der peripatetischen Dialogkultur und somit dem Keim des intellektuellen Europas... So oder ähnlich mögen die Veranstalter der Paneldiskussion A Dispute over Europe gedacht haben, als sie beschlossen, am 2. Mai 2014 in Berlin einen ganzen Nachmittag über Europa zu diskutieren.
Das ist über weite Strecken hochinteressant und vor allem erhellend was historisch-kulturelle Zusammenhänge angeht. Wenn sich ein deutscher Großintellektueller wie der Geschichtsprofessor und Essayist Karl Schlögel verschämt als „europäischen Romantiker“ zu erkennen gibt, dann könnte man fast ein wenig sentimental werden. Sein Gesprächspartner, der bulgarische Philosoph Ivan Krastev, kontert mit witzigem Understatement und schwer zu verdauenden Wahrheiten: „In Europa sind wir sehr stolz darauf, außergewöhnlich zu sein. Das ist nett, aber auch nur einen Schritt vom Museum entfernt.“ Das „tastende Vorwärtsgehen und Weiterbauen“ am Haus Europa, das Karl Schlögel in guter Akademikermanier vorschlägt, ist Krastev nicht genug: „Es reicht nicht, ein guter Manager zu sein. Man muss auch bereit sein, für seinen Staat zu sterben.“
Multikulti versus Wertexport?
Kein Wunder also, dass Europa so grau und zweifelnd daher komme, fehle ihm doch das kämpferische Blut früherer Jahrhunderte. Das kann man von dem französischen Philosophen Camille de Toledo sicherlich nicht behaupten. Während seine Gesprächspartnerin Necla Kelek die europäische „Meinungsfreiheit, Selbstbestimmung und Selbstständigkeit“ preist, hat de Toledo keine Lust auf europäische Selbstzufriedenheit: „In der Konstruktion Europas geht es viel zu oft um die Vergangenheit. Wie wäre es mit etwas Zukunft?“ Im Folgenden fliegen dann auch die Fetzen, wenn Kelek dafür plädiert, Multikulti zu verwerfen und die europäische Freiheitsidee in andere Länder zu exportieren. De Toledo spricht aber lieber von „Übersetzung grundlegender Werte“ und hat kein Verständnis für eurozentrische Wertbombardements.
Wenn sich der Schrifsteller H.C.Buch und der Publizist Thomas Rietzschel schließlich über Rousseau, die Aufklärung und den Demokratiegedanken ergehen, dann ist die Europadiskussion endgültig im intellektuellen Elfenbeinturm angekommen. Während Rietzschel die politische Klasse verteufelt und die EU als „politisches Imperium voller Versuchskaninchen für europäische Politiker“ geißelt, verwirft Buch jede Möglichkeit einer Rückkehr zur Basisdemokratie und erinnert die aufmerksame Zuhörerschaft daran, dass „unsere Probleme Peanuts sind im Vergleich mit denen anderer Weltregionen“. Postdemokratische Verhältnisse und apolitische Dekadenz allenthalben? Wohin Europa steuert bzw. zu steuern ist, will auch nach langen Stunden der Durchleuchtung historischer, politischer und philosophischer Zusammenhänge nicht so recht klar werden.
"In der Ukraine herrscht Krieg"
Als zu späterer Stunde schließlich über den Ausnahmezustand in der Ukraine zu Rate gesessen wird, ist das Licht am Ende des europäischen Tunnels endgültig erloschen. Der ukrainische Schriftsteller und Übersetzer Jurko Prochasko beginnt die Diskussion mit einem Paukenschlag, der an den gängigen Sprachregelungen unserer politischen Debatten rüttelt: „Wir müssen aufhören, von einer ‚Ukrainekrise‘ zu sprechen. Machen wir uns nichts vor: In der Ukraine herrscht Krieg.“ Wie das Land in der Zerreißprobe zwischen Ost und West gerettet werden könne? Jakob Augstein, Verleger und Chrefredakteur des Freitag, hält der europäischen Debattenkultur den Spiegel vor: „Wir sollten aufhören zu denken, dass wir auf alles eine Antwort haben. In Fall der Ukraine hat der Westen einfach keine Antwort.“
Von der Ukraine bis zu Gesamteuropa ist es nur ein kleiner Schritt. Zukunft ja, aber welche? Historisches, politisches, philosophisches und kulturelles Hintergrundwissen ist bei der Beantwortung dieser Frage sicher nützlich. Denn das „gedachte Europa“ hat nicht umsonst eine lange und einflussreiche Tradition. Um es allerdings zu einem zukunftsfähigen Projekt zu machen, das alle Teile der Bevölkerungen Europas einschließt und nicht nur im denkerischen Raum hängen bleibt, darf das „gelebte Europa“ auf keinen Fall vergessen werden - auch wenn es im Vergleich zu intellektuellen Diskussionen vielleicht manchmal etwas einfach daherkommt.
CAFÉBABEL BERLIN STREITET ÜBER EUROPA
Cafébabel Berlin ist offizieller Medienpartner von A Dispute over Europe. Ab dem 2. Mai 2014 könnt ihr hier Interessantes vom Kongress und Interviews mit den Panelteilnehmern lesen. Mehr Updates gibt es auf Facebook und Twitter.