Die WM 2010 aus Sicht von italienischen Globalisierungsgegnern
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Simone BrunnerWie erlebt man die Weltmeisterschaft in einem autonomen Jugendzentrum in Norditalien? Soll man als Globalisierungsgegner für Italien sein und Rai schauen, wenn man links der Linken ist? Wichtige Fragen, wenn man bedenkt, dass das runde Leder es immer wieder schafft, selbst die strengsten Globalisierungskritiker vor den Bildschirm zu locken.
Im Bel PaeseItalien ist allseits bekannt, dass Fußball nicht nur einfach ein Sport, sondern eine nationale Leidenschaft ist. In Italien ist es unmöglich, sich der Weltmeisterschaft zu entziehen, selbst für diejenigen, die darauf bestehen, den Sender zu wechseln, wenn die Rai ein Spiel überträgt oder sich die Kopfhörer ihres I-Pods in die Ohren stöpseln, wenn im Zugabteil eine Diskussion über Fußball entbrennt.
Eher für Algerien als für Italien
Auch in den so genannten «centri sociali», den autonomen Jugendzentren in Italien, die Globalisierungsgegnern die Möglichkeit bieten, sich zu versammeln und zu diskutieren, entkommt man der Fußball-Euphorie nicht. In den Lokalitäten einer leer stehenden Fabrik haben sich die Jungs des Jugendzentrums von Bergamo vor einer Leinwand versammelt, auf welche die WM-Spiele projiziet werden. Gleich daneben ein Che-Bildnis, die Flagge der ETA und einige Manifeste, die Zeugen von ehemaligen Mobilisierungen sind.
Das erste Dilemma kristallisiert sich schnell heraus: „Sky oder nicht Sky?“, was soviel heißt wie: Soll man das Abonnement für die Königin des gebührenpflichtigen Fernsehens bezahlen, um alle Spiele in angemessener Schärfe verfolgen zu können, mit dem Risiko seine Ideale im Namen des Fußballgottes zu opfern? Die Entscheidung ist schnell gefällt: Man entscheidet sich für Übertragungen ausländischer Sender im Internet. Damit hat man zwar einen Kommentar in unverständlicher Sprache - zum Beispiel auf Aserbaidschanisch - aber das ist egal: Die passenden Reporter, Mitglieder des autonomen Zentrums, kommentieren die Spiele einfach live von ihren Computerposten aus.
Auch das Fan-Sein im autonomen Jugendzentrum will gelernt sein: Es ist besser, sich nicht allzu leidenschaftlich für die eigene Nationalmannschaft einzusetzen und die Nationalhymne - wenn überhaupt - nur ganz leise mit zu singen. Das ist fast schon ein bisschen wie bei der rechtspopulitischen Liga Nord, deren jüngster Sprössling Renzo (Sohn von Umberto Bossi, dem Sekretär der rechtspopulistischen Partei) die Mannschaft der norditalienischen Region Padanien und nicht etwa die Squadra Azzura anfeuert. Auf der linken Seite, der Sinistra antagonista („Linksradikalen“), drückt man Algerien, Nordkorea oder Serbien die Daumen.
Politischer Fußball in Italien
Warum gerade diese Länder? Von Algerien wird erwaret, dass es den amerikanischen Imperialisten eine ordentliche Niederlage beschert. Die Nationalmannschaft von Kim-Jong-Il zu unterstützen ist jedoch politically nicht ganz korrekt, aber man evoziert damit Ironie und einen Hauch von Zynismus, indem man sich an die Bestrafung erinnert, die die nordkoreanische Mannschaft 1966 für „zu bürgerliche Freuden“ erdulden musste (Nordkorea war zur WM 1966 in England bis in die Viertelfinals gekommen). Serbien wiederum ist ein Muss für diejenigen, die als freiwillige Helfer in vom Krieg verwüsteten Balkanregionen waren und mit dem Mythos von Tito aufgewachsen sind. Fußball und Politik sind in Italien einfach unzertrennlich: Während Lazio Rom und Inter Mailand traditionell eher konservative Klubs sind, neigen die rossi livornesi [die Roten aus Livorno] gern dazu vor einem Spiel „Berlusconi vaffanculo!“ zu brüllen, um danach schnurstracks einen Euro Bußgeld in die Kasse zu legen. Denn öffentliche Beleidigungen in Stadien sind in Italien mit einem Bußgeld belegt.
Und was, wenn Italien Weltmeister wird?
Der Fußball in Italien kann also mitunter auch als Verlängerung der Politik in den Stadien gelten. Das autonome Jugendzentrum meiner Stadt beispielsweise organisiert auch jedes Jahr ein Turnier namens „Tacchetti a spillo“ [Pfennigabsätze]. Es handelt sich dabei um ein Frauenfußball-Turnier. Frauen sollen nicht einfach nur Zuschauerinnen sein, nicht nur außerhalb des Spielgeschehens agieren dürfen, sondern auch emanzipiert am Ball sein und das Spiel mitbestimmen können.
Alles in allem haben wir zumindest in Zeiten der WM alle nur Fußball im Kopf, und zwar in dem Ausmaß, dass das runde Leder auch diejenigen vor den Bildschirm lockt, die ihn angesichts der Demenz des lokalen italienischen Fernsehens normalerweise ausschalten. Denn die Italiener haben den Fußball und die Begeisterung für diesen Sport im Blut. Die Unterstützung der Nationalmannschaft ist derartig ansteckend, dass es sogar viele Einwanderer mitreißt, die sich das blaue Trikot überziehen. Und sollte Italien tatsächlich erneut Weltmeister werden, wird sicherlich auch das autonome Jugendzentrum von Bergamo auf die Straße gehen und mitfeiern - allerdings mit einer alternativen Variante der dreifarbigen Flagge: Dem roten Stern der Partisanen - Symbol für ein anderes Verständnis von Patriotismus.
Foto: ©The 2-Belo/flickr; ©sevenresist/flickr; ©ankor/flickr; Video: ©momba1/Youtube
Translated from Fischio d'inizio: palla a sinistra! I Mondiali visti da un centro sociale