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Wojnas Weg: "Im heutigen Russland sind aggressive Spießer an der Macht"

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KulturGesellschaftPolitik

Der größte Teil der russischen Opposition befindet sich nachwievor außerhalb der Parlamente. Dazu gehört auch das Künstlerkollektiv Wojna. Die selbsternannte Moskowiter 'Street-Art-Gang' treibt seit 2005 in Russland ihr Unwesen. Im ersten Teil des cafebabel.com-Interviews beschreiben die Aktivisten von Wojna ihre Entstehungsgeschichte.

Die Putin-Partei Vereintes Russland hat bei der Parlamentswahl am Sonntag Stimmverluste hinnehmen müssen (49,5%; 2007 waren es noch 64,3%). Die Opposition erfreut sich hingegen eines ungeahnten Zuwachses. Trotzdem wird den Behörden Wahlbetrug vorgeworfen, Regierungsgegner gingen im Anschluss an die Duma-Wahlen in Moskau und St. Petersburg auf die Straße. Der größte Teil der Opposition befindet sich nachwievor außerhalb der Parlamente. Dazu gehört auch das Künstlerkollektiv Wojna. Die selbsternannte Moskowiter 'Street-Art-Gang' treibt seit 2005 in Russland ihr Unwesen. Ihre vier wichtigsten Mitglieder sind Präsident Leonid Nikolajew, der Ideologe Oleg Worotnikow, Koordinatorin Natalia Sokol und ihr Sohn und Wojnas jüngster Aktivist, der zweijährige Kasper 'bloß-nicht-aus-den-Augen-lassen' Sokol. Im ersten Teil des cafebabel.com-Interviews beschreiben die Aktivisten von Wojna die Entstehungsgeschichte der Gang.

Cafebabel.com: Wie ging es mit Wojna los?

Wor (alias Oleg Worotnikow): Ich habe einen Abschluss in Philosophie von der Staatlichen Universität Moskau (MSU). Koza hat einen Doktor in Physik und sie gehört zur Unterabteilung für Molekularphysik an der MSU. Leo ist der einzige ohne Universitätsabschluss. Er ist einfach ein Naturtalent. Ein wenig beneide ich ihn. Koza und ich hatten schon für zehn Jahre in Moskau völlig unabhängig von öffentlichen Versorgungseinrichtungen gelebt. Sieben davon haben wir kein Geld verwendet. Wir erklärten, Nahrung sei ein Recht und kein Privileg und haben uns deshalb geweigert, Geld dafür zu bezahlen. Wir haben tatsächlich für überhaupt nichts bezahlt. Wir haben uns für soziale Praktiken im urbanen Raum interessiert, wie lebt man in einer der teuersten Städte der Welt, wenn man alles ablehnt, was uns als notwendig aufgedrängt wird? Schritt für Schritt haben wir auf alles 'Menschliche' verzichtet: eine Wohnung, Wohlstand, Jobs, Karrieren. In Moskau hängen alle diese Nettigkeiten auf die eine oder andere Weise von der Loyalität gegenüber dem derzeitigen Regime ab, das man nur als 'kannibalistisch' beschreiben kann. Wir haben das Regime verabscheut. Wir haben auf Dachböden gelebt und Nächte in Gängen und Seminarräumen der Uni verbracht. Im Sommer haben wir auf der Straße geschlafen. Wir nennen das den 'Weg ohne Hurerei'.

Koza (Natalia Sokol alias Kozlenok): Aus dieser Lebensweise entstand schließlich unsere erste Ausstellung zu Straßenpraktiken, die im Moskauer Kult-Kulturzentztrum DOM stattfand. Die Ausstellungseröffnung im Mai 2006 markierte den Anfang von Wojnas öffentlicher Existenz als Street-Art-Gang. Unser abenteuerliches, kriminelles Leben erhielt eine ästhetische Ausformulierung. Ich habe die Gruppe nach meinem Mann benannt. Wor klingt wie war, das englische Wort für Krieg, das auf Russisch Wojna lautet.

Wor: Unser gesamtes Leben ist gleichfalls ein unaufhörlicher Kampf, ein Kampf gegen das Spießertum.

Leo der Dumme (alias Leonid Nikolaev): Unsere Hauptfeinde sind die korrupte Polizei und das russische Regime. Beide sind der Inbegriff des aggressiven Spießertums. In der russischen Ganovensprache gibt es ein Wort für einen aggressiven Spießer: Schlub [vermutlich vom polnischen żłób, in etwa „Dumpfbacke“, A.d.R.]. Im heutigen Russland sind die 'Dumpfbacken' an der Macht. Sie sind Polizisten im Priesterrock. Nur damit sie sich die Taschen mit schmutzigem Geld vollstopfen können, haben sie das Land gekidnappt. Im Kern ist es der Triumph von polizeistaatlicher Mentalität und rechtem Reaktionismus unter der Maske eines vorgetäuschten Patriotismus. Ein Königreich der Dumpfbacken. Und wir sind gegen die Dumpfbacken.

Cafebabel.com: Wojna besteht aus mehr als 200 Aktivisten. Hat die Gruppe auch einen Kern?

Wor: Das Rückgrat der Gruppe, der ideologische Kern ist nur eine Handvoll Leute. Zur Zeit sind es 13 — ein Teufelsdutzend. Ich nenne sie die wahren Führer von Wojna. Kasper ist unser jüngster Aktivist. Er kam am 19. April 2009 zur Welt und hat seitdem an allen unseren Aktionen teilgenommen. Seine erste Aktion war das Punkkonzert von Wojna am 29. Mai 2009 im Tagansky-Gericht von Moskau. Es fand während des Prozesses gegen die Kunstkuratoren Andrei Yerofeev und Yuri Samodurov statt, die dafür angeklagt worden waren, dass sie die Forbidden Art-Ausstellung im Sacharow-Museum organisiert hatten. Wir haben E-Gitarren, ein Mikrofon und einen Verstärker in den Gerichtssaal geschmuggelt. Dann haben wir den Richter mit einer Live-Darbietung des Songs All Cops Are Bastards unterbrochen. Koza schrie ins Mikrophon und hielt dabei den einen Monat alten Kasper im Arm.

Leo: Kasper ist Russlands jüngster politischer Gefangener. In Zusammenhang mit unseren Aktivitäten wurde er dreimal von der russischen Polizei verhaftet. Am 31. März 2011 hat die Polizei Kasper auf dem Newski-Prospekt mitten in St. Petersburg verhaftet. Sie haben ihn mit Gewalt von seinen Eltern fortgezerrt und dann als unidentifiziertes Kind in ein Krankenhaus gesteckt.

Cafebabel.com: Habt ihr jemals außerhalb von Russland gelebt?

Leo: Wir sind Russen. Ich bin noch nie ins Ausland gereist und habe es auch nicht vor. Im heutigen Russland findet ein Vernichtungsfeldzug statt. Das Regime vernichtet das russische Volk. Eine beträchtliche Anzahl Menschen, insbesondere gut ausgebildete Leute, haben bereits das Land verlassen, nachdem sie sich erfolglos bemüht hatten, es hier zu etwas zu bringen. Für Millionen Menschen, die in Russland geblieben sind, haben sich die Lebensentwürfe nicht verwirklicht, daran trägt das Regime die Schuld und deshalb kann ich das Land nicht verlassen: Für mich verläuft hier die Front.

Foto: Homepage (cc)Voina/wikimedia

Translated from Russian art collective Voina: 'Zhlobs are in power in today's Russia'