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Ungarn-Slowakei: 'Durch Schengen wird mein Leben nicht besser'

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Default profile picture Ulrike Lelickens

KulturGesellschaftPolitik

Am 21. Dezember wurde gefeiert. Doch für Bewohner des ungarischen Grenzgebietes ist der Beitritt zum Schengener Abkommen ein historisches Ereignis mit bittersüßem Nachgeschmack.

Um zur slowakischen Grenze in der ärmlichen Industriestadt Sátoraljaújhely (dt: Neustadt am Zeltberg) in Nord-Ungarn zu gelangen, muss man die Straße überqueren. Sie beginnt in Ungarn und endet in der Slowakei. "Ich werde mit dem Fahrrad die ganze Woche lang die Straße rauf- und runter radeln", ruft der achtjährige Sándor Pintér. Sein Vater István hat seinerseits gemischte Gefühle, wenn er an den Beitritt Ungarns und der Slowakei zum Schengener Abkommen denkt.

Geschichte eines Schlosses

Die Pintér-Familie besitzt ein kleines Schloss in Sátoraljaújhely das noch erheblich größer war, bevor 1920 im Vertrag von Trianon beschlossen wurde, dass der Großteil des Grundstückes auf slowakischem Gebiet, dem Sitz des Hofes der Familie, verbleiben würde. Ungarn verlor 71 Prozent seines Gebietes und 66 Prozent seiner Bevölkerung. Die Slowakei wurde Teil der damaligen Tschechoslowakei. Der Vertrag von Trianon schlug mehrere tiefe Wunden in das Leben fast jeder zweiten Familie. Hunderte blieben in der neuen ungarischen Ordnung geteilt. Abgesehen davon, dass einige ungarische Aristokratenfamilien Grund und Boden und ein beachtliches Vermögen verloren.

"Ich bin noch nicht da gewesen", sagt er bitter. "Nicht einmal nach all der langen Zeit. Wir haben bisher keine Erlaubnis, unser Eigentum einzufordern oder zu nutzen. Jetzt haben wir zwar grünes Licht bekommen, die Grenze ohne Papiere überqueren zu können - aber was bringt uns das? Will ich wirklich an all die Familienerinnerungen und schlimmen Gefühle zurückdenken? Ich glaube nicht. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie unser Leben verlaufen wäre, hätten wir nicht unser Familienvermögen verloren. Durch Schengen wird mein Leben nicht besser, es gibt mir mein Land nicht wieder zurück. Es wäre mir egal, wenn ich wie bisher stundenlang in der Schlange stehen müsste."

Von einem Land in das andere segeln

Es war zu vermuten, dass die Wunden mehr als achtzig Jahre später nicht zuheilen würden, ohne Narben zu hinterlassen. Aber vielleicht kann der 21. Dezember 2007, an dem sich die Grenzen zur Slowakei, nach Slowenien und Österreich öffneten, zu einem Datum werden, das den Schmerz in Zukunft ein wenig lindert. Seit diesem Tag ist Ungarn einer der Grenzhüter der Europäischen Union, und man kann in Windeseile - und vor allem ohne anzuhalten - von Sárospataki in Nord-Ungarn zum Atlantik gelangen.

Anna, 25, studiert in Budapest. Aber ihre Familie wohnt in Pozsony, Bratislava, der slowakischen Hauptstadt. Sie kann es kaum glauben, dass das lästige Warten an der Grenze mit dem Pass in der Hand nun ein Ende hat. "Ist das nur ein Traum?", fragt sie geradeheraus. Die EU scheint so viel greifbarer. Auf jeder Karte lässt sich klar erkennen, dass der Neusiedlersee (Fertö) sich sowohl in Ungarn als auch in Österreich befindet. Von nun an können Ungarn nach Lust und Laune von einem Ende des Sees zum anderen segeln, da er nun zum Allgemeingut geworden ist. Zu einem gemeinsamen Kleinod.

Während der Feierlichkeiten zur gemeinsamen Ausrichtung der Fußball-EM 2008 mit der Schweiz, brauchten die österreichischen Behörden bloß zu erwähnen, dass die Sicherheitsvorkehrungen für durchreisende Fußball-Fans erhöht wurden. Sofort waren die Fernsehsender zur Stelle, um darüber zu berichten.

Inzwischen können Ungarn, die in der Ukraine oder in Serbien wohnen, mit einem gültigen Visum über die Grenze in ihr einstiges Heimatland gelangen. Die Freude wird jedoch von den Visa-Preisen etwas getrübt: bis zu 10.000 Forint (39 Euro) muss man dafür hinblättern. Somit kostet ein Familientreffen, ein Abendessen oder ein Treffen mit alten Freunden ein Vermögen. Das belastet den Geldbeutel der Menschen erheblich. Was ist mit Familien, die sich kein Visum leisten können?

Ende gut…

Trotzdem ist die Ära vorüber, die sich mit dem eisernen Vorhang und Janós Kádár, Ungarns kommunistischem Führer in den Jahren 1956 bis 1988, in unser Gedächtnis gebrannt hat. Schluss mit nervtötenden Prozeduren. Nur die letzte Generation wird an der Grenze weiterhin dieses flaue Gefühl im Magen haben. Dabei ist das Reisen seit dem 21. Dezember kinderleicht.

Die Bewohner des Dorfes Hegyeshalom an der Grenze zu Österreich mussten allerdings etwas länger warten: Es dauerte einige Zeit, bis alle Grenzhäuschen weggeräumt waren und das Geld zusammenkam, diesen Bereich in eine Autobahn zu verwandeln. Doch nun ist sie fertiggestellt.

Am Vorabend der offiziellen Erweiterung gab es Champagner, Feuerwerk, Live-Musik, Trompeten-Fanfaren und Dudelsäcke. Eine "Friedensstatue" wurde in Domonkosfalva an der ungarisch-slowenischen Grenze enthüllt. Die Menschen wollten zeigen, dass sie sich als Einheit begreifen, indem sie eine ungarische und eine slowenische Fahne um die Statue wickelten. An dem belebten internationalen Grenzübergang zur Slowakei Tornyosnémeti wurde eine "Hallo Nachbar Bank" eingeweiht. In der Stadt Esztergom in Nord-Ungarn thront bereits seit drei Jahren die Mária Valéria - die Verbindungsbrücke über die Donau.

In den letzten Stunden des 20.Dezembers herrschte nostalgische Stimmung. Die Menschen fragten nach Stempeln - als Souvenir. In den Ski-Reisebussen wird von nun an niemand mehr seine Zeit damit totschlagen können, die ausländischen Stempel in den Reisepässen zu vergleichen: denn Stempel gibt es nun nicht mehr.

Intext-Foto: Mária Valéria Brücke (Foto: Ervín Pospíšil, Uherský Brod, Tschechische Republik/Wikimedia)

Translated from Hungary-Slovakia: 'Schengen won’t make my life better'