Türkei: Auf der anderen Seite
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Katja HeiseAuf dem ersten Weltforum der Allianz der Zivilisationen am 15. Januar in Madrid, das unter anderem vom türkischen Premier Erdogan auf den Weg gebracht wurde, soll um interkulturelles Verständnis geworben werden.
Die Generation meiner Eltern war die letzte, die noch der Tradition entsprechend religiös erzogen wurde. Das hieß in den fünfziger und sechziger Jahren in einem kleinen konservativen Bergdorf: sonntäglicher Kirchgang, keine Jeans in der Schule und kein Fleisch am Freitag.
Meine Eltern entschieden sich, mich nicht auf diese traditionelle, christliche Art zu erziehen. Vielmehr vermittelten sie mir Prinzipien und Moral, geboren aus einer Mischung von Kants Kategorischem Imperativ (seinen Verstand selbständig zu nutzen!) und ihrer vorbehaltlosen elterlichen Liebe. Ich wuchs mit einem Verständnis für ethische Werte auf, die keinem religiösen Dogma folgten, geprägt von dem starken Verlangen, alles in meinem Leben zu hinterfragen.
Augen auf für die Türkei
Mein Vater arbeitete im deutschen Außenministerium. Deshalb war ich oft mit meiner Familie auf Reisen. Im Alter von 22 Jahren schob ich ein Studiensemester in Istanbul ein. Ein Grund für meine Entscheidung war der starke Einfluss der Traditionen und Werte des Islam auf dieses Land: eine Religion, die mich sehr interessierte, die ich aber nie im täglichen Leben kennen gelernt hatte.
Ich habe den Eindruck, dass die Religion die Menschen in zwei Lager spaltet: Ich habe Menschen getroffen, die allen Regeln des Islam - einschließlich Ramadan, Alkoholverbot und Abstinenz vor der Ehe - folgen. Ich habe aber auch Menschen getroffen, die sich als "laizistisch" bezeichnen. Dies beinhaltet im ursprünglichen Sinne, dass die Religion keinerlei Einfluss auf Staatsgeschäfte haben darf. Interessanterweise scheint diese zweite Gruppe viel mehr Angst vor einem radikalen Islam zu haben, als der islamfeindlichste New Yorker je haben könnte.
Glaubens(vor)urteile
In Deutschland spielt die Religion im öffentlichen Leben eine große Rolle. Der Glauben ist Teil einer jeden Steuererklärung. Die Generation meiner Eltern und Großeltern betrachten die Religion als Teil ihres Lebens. Zu "glauben" wird aber überwiegend als ein altmodischer oder sogar merkwürdiger Brauch angesehen.
Ist diese Entwicklung positiv oder negativ anzusehen? Eine klare Antwort fällt schwer. Religion kann auch politische Spaltung mit sich bringen: so wie beispielsweise in Irland oder beispielsweise im Iran mit Ajatollah Khomeini.
Andererseits beeindruckt es mich, wie einige Menschen in der Türkei für ihre Prinzipien eintreten: die Gebote des Islam. Auch wenn es ihrer beruflichen Karriere schaden kann, tragen einige Mädchen mutig ihr Kopftuch. Männer widerstehen der Versuchung vorehelicher Beziehungen und warten auf die Heirat mit ihrer zukünftigen Braut.
Auch wenn die Religion in der Türkei ein sehr heikles Thema bleibt, kann man, zumindest mit den Menschen, die ich getroffen habe, sehr offen diskutieren. Es hat mir große Freude bereitet, mit Muslimen über Religion und Moral zu diskutieren.
Schweigen und "böse Blicke"
Es gab aber auch Missverständnisse. Eine Frau, die weithin als Expertin für religiösen Feminismus betrachtet wird, sagte mir, sie glaube, eine deutsche Mutter könne ihr Kind nie so sehr lieben, wie eine Muslimin. Ich dachte an meine eigene Mutter und ihre vorbehaltlose Liebe für mich. Ich war verletzt.
Einmal erzählte ich muslimischen Freunden, dass ich meiner Tochter einmal beibringen würde, dass es falsch sei, ihr Haar zu verstecken. Innerlich schmunzelte ich und wartete auf Widerstand, weil ich wusste, dass meine Freunde ganz und gar anderer Meinung waren. Aber sie nickten, schwiegen, protestierten nicht.
Als sie mir vom Nazar erzählten, dem "Bösen Blick" eines anderen Menschen, der für Kopfschmerzen verantwortlich ist, wollte ich gleich antworten, dass dies wohl die verrückteste Erfindung seit dem Ende der Hexenverbrennungen in Europa sei: Aber ich nickte und schwieg.
Lesen Sie mehr zum Thema "Islam in Europa" in unseren Babelblogs!
"Über die Autorin": Katja Heise, 23, hat Politikwissenschaften studiert und ein Erasmusjahr in der Türkei absolviert. Der Artikel wurde in 'Today's Zaman' in der Türkei veröffentlicht.
Intext-Fotos: Der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon und der spanische Premier Zapatero eröffnen das erste Weltforum der Allianz der Zivilisationen am 15. Januar in Madrid ein (Allianz der Zivilisationen)
Translated from Turkey through German eyes