Stimmenthaltung am Kanal
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Malte ArhelgerFreiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Die Obdachlosen am Pariser Kanal St. Martin halten wenig von den Wahlversprechen der Präsidentschafts-Kandidaten.
Die Dämmerung senkt sich über den Kanal St. Martin, dessen gewundene Straßen mit bunten Wahlplakaten übersät sind. Sie wurden am 9. April aufgehängt, dem Tag, an dem der Präsidentschaftswahlkampf in Frankreich offiziell begonnen hat. Einer von den hundert Bewohnern des Kanalufers, die durch diverse Hilfskampagnen der vergangenen Monate Bekanntheit erlangt haben, weist uns den Weg zu einem blauen Zelt. "Casquette" (Kappe) steht auf dessen Rückseite. Das handgemalte Schild bezieht sich auf die schwarze Kopfbedeckung seines Besitzers. Er liegt zurückgelehnt in seinem Zelt. Wir klettern über die Seile, Casquette empfängt uns freundlich. Er bietet uns an, auf einem lilafarbenen Hocker und einer grünen Metallplatte Platz zu nehmen, die das von den Médecins du Monde gespendete Heim vom Kanalufer trennt.
Den Kopf auf die Hände gestützt, zieht er eine gelbe Mappe mit Zeitungsausschnitten hervor. Die Autos brausen vorbei, während er beginnt, vorzulesen. Auf einem schwarzen Stück Pappe, das vor dem Zelt rudimentär mit Klebeband befestigt wurde, steht krakelig die Anzahl von Tagen, die er, umgeben von Wasserflaschen, nun schon im Hungerstreik ist: 24. Er deutet auf ein modernes, mehrstöckiges Gebäude hinter ihm: „Das Problem hier ist die Bourgeoisie.“
Die Kunst des Krieges
Am 16. Dezember organisierte die Hilfsorganisation "Don Quichotes Kinder" eine Zeltblockade am Kanal. Die Präsidentschaftskandidaten sprangen auf das Thema an. Der konservative Nicolas Sarkozy bereitete sogar eine Stippvisite vor. Im April erhielt der erste Obdachlose eine feste Bleibe, nachdem die Regierung des scheidenden Präsidenten Jacques Chirac ein Recht auf Wohnraum gewährte. Die Debatte, die mit einem großen Knall begann, verpuffte jedoch rasch. Am 9. April, 13 Tage vor Bekanntgabe der Resultate der ersten Wahlrunde, hatte der Mitbegründer der Organisation einen Auftritt im öffentlichen Fernsehsender France 3. Er verkündete das Ende der dreimonatigen Kampagne am Kanalufer.
Casquette scheint sich allen Widrigkeiten zum Trotz zum neuen Medienstar der „Föderation“ zu mausern, die die unteren viereinhalb Kilometer des Kanalverlaufs besiedelt. „Die Haltung der Regierung muss sich ändern“, sagt Casquette, der früher Journalist war. „Mein Hungerstreik soll alle die, die zu den Urnen gehen, daran erinnern, für wen sie wählen.“ Während Nicolas Sarkozy verspricht, dass schon in zwei Jahren, „niemand mehr auf der Straße schlafen muss“, glaubt Casquette, dass es gerade das Ziel der Konservativen sei, „eine Gesellschaft zu schaffen, wo es auf der einen Seite die Superreichen und auf der anderen Seite die unglaublich Armen gibt.“
Europa am Kanal
Das Buch, in dem die Kanalbewohner Solidaritätsbekundungen gesammelt haben, hat einen eindeutig europäischen Einschlag. Unter den Touristen, die ihre „Wertschätzung für die Revolution“ ausgedrückt haben, sind Schweden und Spanier. Bei den Stichworten Italien und Spanien denkt Casquette sofort an Berlusconi und Zapatero. „Die Regierungschefs der Europäischen Union wollen ein Europa, das eine Währungsunion ist, aber sie werden ein revolutionäres Europa bekommen. Das wird gefährlich.“
Für einen Moment verschwindet er in seinem Zelt und taucht mit einem Exemplar der „Kunst des Krieges“ wieder auf, das der chinesische General Sunzi im 6. Jahrhundert vor Christus schrieb. „Überall in Europa müssen wir uns vereinen, um diese Politik gemeinsam zu bekämpfen. Ihr wollt ein vereintes Europa, ihr wollt uns zeigen, dass wir ein vereintes Europa sind, das ist genau was wir erreichen wollen. Ihr werdet schon sehen, was das heißt.“
Mühsam nährt sich das Eichhörnchen
„Niemand wählt“. Es ist dunkel geworden, als wir zu Thierry, 42, kommen. Er lebt vor einer kleinen Brücke, die über den Kanal reicht. Thierry hat in Portugal und Spanien gelebt. Er hat „so allerlei Sachen“ gemacht, bevor er an den Kanal gezogen ist. Was die Teilung zwischen Arm und Reich betrifft, stimmt er mit Casquette überein. „Warum wählen? Und für was? Es gibt keine Partei und keine Bewegung, die das Problem ernst nimmt.“ Er zeigt auf eine unbewohnte Etage oben im Wohnhaus gegenüber. „Wir sehen, dass die Fenster zu sind. Kein Licht. Wir sehen das.“
„Stimmt für Ségolène Royal!“ ist der erste Eintrag, als wir mit ihm durch das Buch mit den Solidaritätsbekundungen blättern. Thierry verzieht das Gesicht, als er die Worte liest. Die sozialistische Kandidatin hat eine „lebenslange Garantie auf eine Wohnung“ versprochen, sollte sie die erste Präsidentin Frankreichs werden. Casquette ist jedoch pessimistisch. „Die Sozialisten sagen, dass sie unsere Situation kennen, aber nach zwei Legislaturperioden haben sie doch nichts getan. Die Rechten sind nicht anders. Ein paar Tage vor dem ersten Wahlgang werden sowieso leicht Versprechen gemacht.“
Das Leben geht weiter
Die Solidarität unter den Kanalbewohnern bleibt ungebrochen. Die Bewegung ist gut organisiert und erhält weiterhin die Aufmerksamkeit von Medien und Bürgern. Die Bewegung der Obdachlosen kämpft gegen das Vergessenwerden. Solche Aktionen sind für diese Wahlen typisch: Vor drei Wochen erinnerte der Fernsehmoderator Nicolas Hulot die Kandidaten an die Tatsache, dass sie zu Beginn des Wahlkampfes den von ihm vorgeschlagenen „Pakt für die Umwelt“ unterzeichnet hätten. Hulot hatte sich darüber geärgert, dass das Thema Umwelt im Wahlkampf keine Rolle spielte.
Ein ähnlicher Pakt tauchte wenig später auf: Europäische Stiftungen beklagten, dass das Thema Europa im Wahlkampf untergegangen sei. Casquette sagt, er werbe nicht nur für die Sache der Obdachlosen, sondern auch für Menschen wie seinen Nachbarn, dessen Zwölfstundentag morgens um fünf beginnt. Seine Unterstützung gelte auch den Krankenschwestern und Praktikanten – für mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft.
„Nationale Identität“, „Frankreich und die Franzosen“ mögen weiterhin die letzten Tage des offiziellen Wahlkampfs bestimmen. Eine Umfrage des französischen Ifop-Institutes behauptet, dass 67 Prozent der Franzosen mit einem Wahlsieg Sarkozys rechnen. Während das Land sich jedoch auf den Urnengang vorbereitet, gibt es am Kanal St. Martin wenig Hoffnung. Es ist schwierig zwischen links oder rechts, Mann oder Frau zu wählen, wenn in Frankreich die unteren 100 000 weiterhin weder Wohnung noch Adresse besitzen.
Mit Dank an Adrien Lorenceau
Translated from No voting on Paris's Canal St. Martin