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Segeltörn nach Phantásien 2011: "Wenn dir ein Land auf den Keks geht, kannst du die Leinen los lassen"

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Translation by:

Julia Korbik

Gesellschaft

Estelle aus Frankreich, Espen aus Norwegen - und ihr gemeinsamer Traum, auf offener See zu leben, einmal mit ihrem Hightech-Stahl-Boot AURYN rund um die Welt zu segeln. Was wie eine romantische Adaptierung der Unendlichen Geschichte von Michael Ende klingt, wird im Mai 2011 Wirklichkeit.

Das französisch-norwegische Paar will nächstes Jahr mit seinem Boot in See stechenEstelle und Espen trafen sich während ihres Studiums in Southampton, Großbritannien. Die Französin verließ die Uni mit einem Abschluss in Meereskunde, ihr norwegischer Ehemann machte seinen in Marine-Architektur. Danach ging es zurück nach Frankreich, wo das Paar am Bau der Queen Mary 2 mitwirkte. Für Espen eröffnete sich so eine Laufbahn in der Segelschiffahrtsindustrie. In nur vier Ländern in Europa gibt es Werften, die Segelschiffe aufnehmen können (Frankreich, Deutschland, Finnland und Italien). Das macht die Jobsuche nicht einfach - nach einem Jahr auf See zog Espen 2005 nach Norwegen zurück, fand dort aber keine Arbeit. Ihm wurde eine Anstellung an einer deutschen Werft in Papenburg angeboten und da das Paar Geld brauchte, akzeptierte Espen die Stelle und die beiden zogen nach Deutschland um.

Dort ist Espen nun als Gutachter für ein Kreuzfahrt-Unternehmen tätig, welches deutsche AIDA-Schiffe in Papenburg baut. Estelle verdient ihr Geld mit Gelegenheitsjobs und verbringt den Großteil ihres Tages damit, an ihrem gemeinsamen Boot zu arbeiten. In diesem lebt das französisch-norwegische Paar und besitzt abgesehen davon noch ein kleines Haus. Im Mai 2011 werden Estelle und Espen zurück nach Süd-Norwegen segeln, den Ärmelkanal entlang, runter zu den Kanarischen Inseln über Frankreich, Portugal und Marokko. Nach der Seereise durch die Karibik planen sie, im pazifischen Archipel zu bleiben.

cafebabel.com: Estelle, wie sieht ein normaler Tag für dich aus?

Hier verpasst Espen dem Schiffsrumpf den letzten, weißen AnstrichEstelle Sandvik: Einen normalen Tag, sowas gibt es bei mir nicht. Entweder konzentriere ich mich auf meine Fotografie, beschäftige mich mit neuer Software, sortiere Fotos und lerne, wie man ein Unternehmen auf die Beine stellt, bevor es im Mai 2011 losgeht. Während der nächsten drei Monate muss ich ein technisches Dokument für eine Gesellschaft übersetzen, die Karten-Software herstellt. Das sind 120 Seiten, im Tausch bekommen wir kostenlos digitale Karten und Software für unsere Reise. Ansonsten nimmt das Boot die meiste Zeit in Anspruch. Gerade wünsche ich mir ein paar Zaubertricks, die Dinge auf magische Weise trocknen lassen. Dann könnten wir das Sandstrahlen des Bootes endlich beenden und damit anfangen, das Deck zu streichen und das Deckhaus zu polieren.

cafebabel.com: Was ist besonders daran, seinen Wohnsitz auf einem Boot zu haben?

Estelle Sandvik: Auf einem Boot zu wohnen bedeutet Freiheit - wenn du deine Nachbarn nicht magst, brauchst du einfach nur weiterzuziehen. Wenn dir ein Land auf den Keks geht, kannst du die Leinen los lassen und abhauen. Das Boot wird “unsere” Heimat sein. Es wird keine Gesetze geben, die uns binden und Probleme, wie z.B. Elektro- oder Klempnerarbeiten, bringen wir selbst in Ordnung. Unser eigener Einsatz, Schweiß, Tränen und Lachen. Auf einem Boot zu leben bewirkt, dass du dich klein und verletzlich fühlst. Du bist der Willkür der Elemente ausgeliefert, dem Meer, dem Wind, der Strömung und es hilft dir, dein Leben zu relativieren, ins rechte Licht zu rücken. Letzten Endes: Was sind wir denn? Doch nur kleine Teilchen im großen Universum.

cafebabel.com: Wo hast du die “Kunst des Segelns” gelernt?

Estelle Sandvik: Norweger lernen Segeln, bevor sie Windeln tragen. Espen und ich haben im Juli 2010 beide unsere D5LA-Prüfung (norwegischer Segelschein der Klasse 5, Anm. d. Red.) in der Northern Course Norwegian Sailing School abgelegt. Das ist das Äquivalent zum britischen Yacht-Master. Espen hatte bereits die grundlegende norwegische Segel-Lizenz und die Segel-Lizenz Day Skipper der RYA (Royal Yachting Association) haben wir vor ein paar Tagen bestanden. Allerdings werden wir doch im norwegischen System bleiben, mit einem Kapitän und einem ersten Matrosen an Bord. Ich bin zurzeit erster Matrose, der Kapitän bestimmt die Aufgaben.

cafebabel.com: Welche Tipps hast du für Leute, die keine “Landratten” mehr sein wollen - sowohl mental als auch sozial?

Einfach die anstehende Reise visualisierenEstelle Sandvik: Mental: Du wirst Zusammenbrüche haben. Das Geld könnte knapp werden. Du wirst tausendmal länger für Dinge brauchen, als ursprünglich geplant. Wenn du es nicht schaffst, deine eigenen Erwartungen zu erfüllen, mach’ dich nicht fertig. Schnapp’ dir ein inspirierendes Buch, geschrieben von Menschen, die vor dir das Gleiche durchgemacht haben, wie beispielsweise der englische Matrose Robert Knock Johnston. Stell' dir vor, du befändest dich schon auf der Reise. Wenn du es nicht wirklich willst, dann lass’ es sein.

Sozial: Wenn die Leute nicht verstehen, warum du das machen willst und dich nicht unterstützen, kümmere dich nicht weiter um sie. Segeln ist eine der sozialsten “Sportarten”, die man ausüben kann. Egal in welchen Hafen du einläufst, du wirst dort immer neue Freunde finden. Es ist viel einfacher, auf einem Dock mit den Nachbarn ins Gespräch zu kommen als in einem 15-stöckigen Hochhaus in der Stadt. Das Satelliten-Telefon erlaubt dir, die Welt und deine Familie zu kontaktieren, wenn es mal einen Notfall geben sollte. Mit Hilfe der VHF (Very High Frequency) -Radios kannst du mit anderen Booten in Kontakt bleiben - selbst auf hoher See solltest du dich also eigentlich nicht alleine fühlen. Heutzutage ist die Welt voll mit Menschen, die ihren sozialen Instinkt regelrecht blockieren. Meine eigene Erfahrung hat mir gezeigt, dass Menschen auf dem Wasser nicht von dieser “Gesellschaftskrankheit” angesteckt wurden.

cafebabel.com: Was steht als nächstes auf deiner To-Do-Liste?

Estelle Sandvik: Die Entscheidung treffen, ob wir das Boot kommerziell nutzen wollen oder nicht, d.h. ob wir zahlende Gäste mit an Bord nehmen. Die ganzen Außenarbeiten beenden, bevor der Winter anbricht, Deck-Anstrich, Holzlackierung, Holzölung, das Windsegel und den Mast pflegen. Unsere Badewanne und unseren Gasspeicher aus Fiberglas bauen, das Heizsystem und den Motor winterfest machen. Einen Lieferanten für Stahl- und strapazierfähige Bodenoberflächen finden … So viele kleine Arbeiten, eine unendliche Liste auf unserer Agenda. Es funktioniert nicht, erst an etwas zu denken, wenn man muss. Man muss daran denken, bevor es notwendig ist. Die Konsequenzen, wenn du Dinge aufschiebst oder zu spät erledigst, können enorm sein.

cafebabel.com: Ist es nicht manchmal so, als würdest du nächstes Jahr alles zurücklassen? Fühlst du dich nicht “abgetrennt”?

Estelle Sandvik: Das kann ich jetzt noch nicht sagen, aber mein persönliches Umfeld ist das Boot und deswegen fühle ich mich ihm sehr verbunden. Wenn du die lokalen Gemeinschaften und das soziale Umfeld meinst, da wird es eine gewisse Entfernung geben. Dadurch kann man lernen, sich durch das Zurücklassen von Menschen und Dingen nicht beeinflussen zu lassen. Was ich mir vorstellen könnte ist, dass ich es nicht bedauere, so viel zurückzulassen. Diese globalisierte und materialistische Welt ist das genaue Gegenteil von dem, wofür das Leben auf einem Boot steht: Schlichtheit.

Auch wenn das Wetter mal nicht so gut sein sollte, sind Estelle und Espen auf alles vorbereitetEstelles Tipps für Leute, die ein ähnliches Projekt starten wollen:

In diesen amerikanischen und französischen Segel-Foren gibt es tausende von Beiträgen zu allen Themen, die interessant sein könnten - vom Kauf eines Bootes bis zur Renovierung des Schiffsmotors. Espens Blog bietet eine Innenansicht des Projekts und wird regelmäßig aktualisiert.

Fotos: ©Estelle & Espen Sandvik

Translated from Franco-Norwegian couple: life on a houseboat in Germany