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Sarajevos geteilte Jugend

Published on

Story by

Cafébabel

Translation by:

Julia Korbik

RawBALKANS & BEYONDFoto

25 Jahre nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens sind die Auswirkungen der Balkankriege in

Bosnien und Herzegowina immer noch zu spüren. Junge Menschen im geteilten Sarajevo

sprechen über ihre persönlichen Träume und ihre gemeinsame Zukunft.

In den 1980er Jahren unterhielt die berühmte, in Sarajevo spielende Fernsehsendung Nadrealisti (Die Surrealisten) die Bürgerinnen und Bürger Jugoslawiens, indem sie sich über den zunehmenden Nationalismus lustig machte. Einer ihrer Sketche, der in der Zukunft spielte, zeigte eine Teilung von Sarajevo in „Ost“ und „West“. Jahre später wurde diese unglaubliche und abwegige Vorhersage Realität: Sarajevo, zu Titos Zeiten ein Symbol der Einheit, des Nebeneinanders und der Vielvölkerzugehörigkeit, wurde zweigeteilt. Der Wahnsinn der Balkankriege riss Bosnien und Herzegowina auseinander, zusammen mit seinen Bewohnern und den Straßen seiner Hauptstadt. Zwar beendete das 1995 unterzeichnete Friedensabkommen von Dayton  den Konflikt, aber es teilte Bosnien auch in zwei Einheiten: die mehrheitlich serbische Republika Srpska (Serbische Republik) und die Föderation Bosnien und Herzegowina. Diese Teilung des Staates spiegelt sich auch in der Teilung seiner Hauptstadt wieder: Ost-Sarajevo befindet sich in der Republik Srpska, Sarajevo ist Hauptstadt der Föderation Bosnien und Herzegowina.

Wenn man heute durch Sarajevo läuft, in einem seiner vielen geschäftigen Cafés sitzt, die traditionellen Ćevapi isst, eine Wanderung durch die umgebenden grünen Hügel macht oder die Anlagen der Olympischen Winterspiele von 1984 besucht - auf die die Bewohner Sarajevos in beiden Teilen der Stadt sehr stolz sind – wird man den Unterschied wahrscheinlich nicht bemerken. Die zentralen Teile Sarajevos erscheinen zwar belebter und gedrängter als die Straßen Ost-Sarajevos, die Menschen bewegen sich aber regelmäßig von einem Ort zum anderen: Sie gehen zur Arbeit und erledigen ihre Einkäufe in den vielen Einkaufszentren, die in den letzten Jahren im Stadtzentrum und in den Außenbezirken entstanden sind.

Obwohl eine administrative Grenze zwischen den Teilen Ost-Sarajevo und Sarajevo existiert, gibt es keine spürbare Grenze, keine Absperrungen - nur die irgendwie verwahrlosten Straßenschilder, die den Übergang in eine andere „Einheit“ signalisieren. Anders als Berlin, welches physisch durch eine Beton-Mauer getrennt war, sind die Aufteilungen in Sarajevo subtiler und eher geistiger Natur: Die jungen Menschen auf beiden Seiten sind durch gesonderte ethnisch-basierte Bildungssysteme getrennt sowie durch unterschiedliche politische und gesellschaftliche Einflüsse. Dennoch haben diese jungen Menschen in der Realität viel gemeinsam, besonders wenn es um ihre gemeinsame Zukunft geht.

Ahmed (20), aus Sarajevo

„Als ich mit meinem Studium angefangen habe, wollte ich in der Politik arbeiten und zur präventiven Verbrechensbekämpfung forschen. Aber je älter ich werde, desto bewusster werde ich mir meiner Gesellschaft und ihrer vielen Herausforderungen: Korruption, Vetternwirtschaft und die mangelnde Transparenz, wenn es um Beschäftigung im öffentlichen Dienst geht. Das System verfault und für junge Leute gibt es nur begrenzte Möglichkeiten. Ehrenamtliche Arbeit hat mir ganz neue Möglichkeiten eröffnet. Dieses Jahr möchte ich gerne ehrenamtlich im Ausland arbeiten, damit ich mehr lerne und, wenn ich zurückkomme, einen Beitrag leisten kann: zu meiner Gemeinschaft, zu Gleichaltrigen und zu zukünftigen Generationen. Junge Leute aus Bosnien und Herzegowina sollten mehr reisen, lernen, wie Dinge woanders funktionieren, und entdecken, was uns hier fehlt an Sicherheit, Lebensfülle, Vielfalt, guter Bildung und Möglichkeiten, Kreativität auszudrücken. Ich habe Vertrauen in die jungen Leute hier. Wir haben das Potential, positive Veränderungen zu bewirken, weil wir nach vorne schauen und uns nicht auf die Vergangenheit konzentrieren.“

Dobrica (20), aus Ost-Sarajevo

„Ich möchte Unternehmer werden - ich glaube, das ist der einzige Weg, um in Bosnien wohlhabend zu werden. Aber Unternehmertum wird in unserer Gesellschaft stigmatisiert. Unsere Eltern wollen, dass wir solide Jobs haben, und nicht, dass wir selber etwas wagen. Unser Bildungssystem fördert uns auch nicht gerade. Wir haben eine sehr hohe Jugendarbeitslosigkeitsrate - 60 Prozent, was einen massiven „braindrain“ verursacht: Um die 150.000 Jugendlichen haben seit 1995 Bosnien und Herzegowina verlassen. Sie sind abgehauen, um im Ausland zu studieren oder zu arbeiten, und für gewöhnlich kommen sie nicht zurück. Das ist enttäuschend, denn es gibt hier viele Möglichkeiten, viele nicht genutzte Ressourcen. Junge Leute müssen sich einfach mal aus ihrer Komfortzone herausbewegen und etwas Neues ausprobieren. Natürlich müssen sich viele Dinge in Bosnien und Herzegowina ändern, von der Verkehrsinfrastruktur, über die Wirtschaft und unsere Verfassung bis hin zu einer neuen Haltung gegenüber der Umwelt. Wir brauchen qualitativ hochwertige Bildung und alle Rechte, die dazugehören, genauso wie praktische Fähigkeiten. Ich hoffe, dass ich durch mein Engagement in den Medien und in der Wirtschaft Möglichkeiten für andere junge Leute schaffen, und meiner Gesellschaft zumindest einen kleinen Hoffnungsschimmer geben kann.“

Adi (24), aus Sarajevo

„Ich habe Monate damit verbracht, mich auf die Prüfung vorzubereiten und zahlreiche Assessment Center und Bewerbungsgespräche absolviert, bevor ich an dem Programm teilnehmen durfte. Das Militärtraining war hart - besonders in den ersten Tagen -, aber das war es wert. Genau wie andere junge Leute hier will ich ein normales Leben, Gesundheit und Stabilität. Es stimmt nicht, dass junge Leute in Bosnien und Herzegowina lethargisch und faul sind. Wir wollen arbeiten, aber wir wissen, dass es in unserer Gesellschaft große Ungerechtigkeiten gibt, die uns einschränken. Es gibt wenige Möglichkeiten, dafür aber viel Korruption. Das beeinträchtigt unseren Antrieb und unsere Motivation. Junge Leute müssen hartnäckiger sein und einen starken Willen haben, um ihre Ziele zu erreichen.“

Sonja (21) aus Ost-Sarajevo

„Ich strebe danach, ein normales Leben zu haben - meinen Abschluss zu machen, einen Job zu bekommen und eine Familie zu gründen. Ich würde gerne als Maschinenbauer arbeiten, aber die Industrie hier ist schwach und es gibt nur begrenzte Möglichkeiten. In Deutschland passiert in meinem Arbeitsbereich viel, also könnte ich dort arbeiten, oder für eine der ausländischen Firmen, die hier Zweigstellen haben. Junge Leute in Bosnien und Herzegowina denken vor allem über ihre Jobchancen nach, aber es gibt auch andere Themen, die uns beschäftigen: Politik, Nationalismus, niedrige Lebensstandards, steigende Staatsverschuldung. Um zur Gesellschaft beitragen zu können, müssen wir uns selbst bilden, wir müssen jeden Tag etwas Neues lernen - nicht nur durch formale Bildung, sondern indem wir uns anderen Ländern und Kulturen aussetzen: Musik, Sport und Filme. Alle diese Dinge werden uns helfen, unseren Horizont zu erweitern.“

Hajrudin (20) aus Sarajevo

„Es ist schwierig, hier zu leben, wenn man keinen guten Job hat. Es gibt eine Menge Armut, die Qualität der Gesundheitsvorsorge ist schlecht und es gibt berufsbedingten Stress und existentielle Lebensfragen, die uns jeden Tag quälen. Viele Menschen haben posttraumatische Belastungsstörungen. Auch junge Menschen spüren die Auswirkungen der Kriege, insbesondere wenn ihre Eltern ihnen beibringen, Nationalisten zu sein und keinen Umgang mit anderen Ethnien zu pflegen. Ich sehe Menschen als Individuen, nicht als Mitglieder einer bestimmten ethnischen Gruppe. Wir müssen uns gegenseitig respektieren und zusammenarbeiten. Ich glaube, dass einzelne Menschen eine Menge ändern können. Wenn wir uns weniger stressen, wenn wir mehr Hoffnung und Optimismus haben, dann können wir Verbesserungen durchsetzen. Die größten Probleme in unserem Land sind Korruption, wirtschaftliche Unbeständigkeit und Arbeitslosigkeit. Und doch, trotz alldem: Ich sehe für mich selbst eine Zukunft hier, weil ich dieses Land und seine Menschen liebe.“

Jelena (19) aus Ost-Sarajevo

„Mein Ziel ist es, mit Forschung zu arbeiten und selber zu forschen: zu benachteiligten Bevölkerungen, zu Flüchtlingen und Binnenvertriebenen wie beispielsweise den Roma, zu benachteiligten Kindern. Ich plane, mich in Österreich oder Portugal beruflich zu spezialisieren. Dort werde ich meine Wissensgrundlage aufbauen - hier haben wir keine praktischen Ausbildungsprogramme im Bereich Bildung. Und dann komme ich zurück und setzte diese Qualifikationen hier ein. Ich möchte weiterhin mit jungen Menschen arbeiten. In unserer Gesellschaft gibt es diese Wahrnehmung, dass junge Leute passiv sind, aber das ist nicht wahr. Die, die offizielle Stellen haben, arbeiten vielleicht nicht so viel. Aber Mitglieder der Zivilgesellschaft und Einzelne bemühen sich sehr, in ihrer Gesellschaft einen Unterschied zu machen. Wir brauchen einfach mehr positive Geschichten, die über die Medien geteilt werden. Und wir müssen uns auf die guten Dinge konzentrieren und darauf, bessere Möglichkeiten zu schaffen - damit wir motiviert sein können, um mit unserer Arbeit voranzukommen.“

Zlatan (24) aus Sarajevo

„Ich habe nie wirklich darüber nachgedacht, wegzugehen, aber die Gelegenheit kam zur richtigen Zeit. Ich glaube nicht, dass es einfach wird - aber ich bin aufgeregt, etwas Neues auszuprobieren, und ich bekomme im Ausland eine bessere Ausbildung. Wenn ich Deutsch gelernt habe, werde ich wahrscheinlich Mikrobiologie oder Wirtschaft studieren. Die Möglichkeiten in Bosnien und Herzegowina sind begrenzt, und ich wünschte, die Leute hier hätten Zugang zu besserer Bildung und mehr Freiheiten, ihren Interessen nachzugehen. Es gibt weder eine wirkliche Demokratie, noch Rechtsstaatlichkeit. Das hat dazu geführt, dass viele junge Leute desillusioniert sind. Wir haben eine Menge Potential, aber es wird nicht voll ausgeschöpft. Die Regierung ermöglicht uns keine Chancen. Junge Leute haben nicht genug Berufserfahrung, was es für sie sehr schwierig macht, überhaupt einen Job zu bekommen. Und selbst wenn sie kreativ sind, können sie diese Kreativität nicht ausüben, weil es ihnen an finanziellen Möglichkeiten fehlt.“

Milan (24) aus Ost-Sarajevo

„Ich erkenne klar die Mängel an meiner Uni. Deshalb habe ich mich während meines Studiums immer bemüht, zu arbeiten, auch ehrenamtlich, um meine Fähigkeiten zu erweitern. Geht es um die Zukunft, gibt es immer Unsicherheit, und das ist der Grund, warum Leute ins Ausland gehen. Es gibt die Auffassung, dass wir keine Kontrolle über unser Leben und unsere Umgebung haben. Junge Leute erschaffen oft negative Narrative der Gegenwart, übernehmen dabei die Ansichten ihrer Eltern und idealisieren Jugoslawien. Die Gegenwart mag manchmal düster erscheinen, aber ich glaube, dass die Möglichkeiten endlos sind. Ich hoffe, dass ich die Zeit, den Raum und die Ressourcen haben werde, um mich meinen Leidenschaften zu widmen - Schreiben, Forschung und Psychologie. Und ich wünsche mir, dass alle anderen die gleiche Freiheit haben. Es ist wichtig für junge Leute, zuerst in sich selbst zu suchen, sich von den Nachrichten und von Facebook loszumachen, in die Bücherei zu gehen, positiv zu denken und zu sprechen. Und dann zu sehen, wie ihr Leben sich nach und nach verändert hat. Wir sollten aus einer breiteren Perspektive auf unsere Gesellschaft schauen, mit mehr Menschlichkeit und Empathie - nur dann können wie die Möglichkeiten erkennen, die wir genau hier vor uns haben.“

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Text: Lana Pasic

Fotos: Nemanja Pancic

25 Jahre nach Ausbruch der Balkankriege will Balkans & Beyond originelle Geschichten erzählen und Gesichter der jungen Generation aus Bosnien, Mazedonien, Kroatien, Kosovo, Slowenien, Serbien und Montenegro zeigen, eine Generation, die bereit ist zu vergeben aber nicht zu vergessen. Das Projekt wird von der Allianz Kulturstiftung und cafébabel Berlin getragen.

Story by

Translated from Sarajevo’s post-Dayton generation