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Ruhe in Frieden: Europäische Solidarität in Zeiten des Arabischen Frühlings

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Gesellschaft

Die mehreren tausend tunesischen Migranten, die in den letzten Wochen europäischen Boden betreten haben, wurden Anlass scharfer Kampfansagen, vor allem seitens Frankreichs und Italiens. Die zwei Länder trafen sich Ende April, um eine Reform des Schengen-Abkommens – Garant des freien Personenverkehrs innerhalb des Schengen-Raums – anzustoßen. In vier Schritten hinterfragt cafebabel.

com die ablehnende Haltung Europas gegenüber Individuen, deren revolutionäre Verdienste man gestern noch rühmte.

Noch im Januar unterstützte Europa geschlossen die tunesische Revolution, der man den Beinamen „Jasminrevolution“ gegeben hatte. Seitdem haben ca. 20 000 Migranten ihr Heimatland in Richtung der nahegelegenen italienischen Insel Lampedusa verlassen. Die Flüchtlinge hoffen auf eine bessere Zukunft und darauf, dass der Übergang zur Demokratie ihren Ländern zu politischer und wirtschaftlicher Stabilität verhilft. Es sind vor allem junge Menschen, viele Männer, aber auch einige Frauen. Sie reisen ohne Visa nach Europa ein, doch die meisten haben weder das Recht noch den Wunsch, Asyl zu beantragen. Vielmehr wollen sie nach Frankreich weiterreisen, dem Land, dessen Sprache viele von ihnen beherrschen und wo sie auf Arbeit hoffen – egal welche. Doch zu ihrer großen Verunsicherung schlägt ihnen eine Welle von Feindseligkeiten entgegen, die sich aus dem Versuch eines jeden Landes nährt, seine nationalen und bisweilen auch wahlstrategischen Interessen zu verteidigen. Und das auf Kosten einer einheitlichen europäischen Migrationspolitik.

Viele wollen kein Asyl beantragen, sondern einfach nur einen Job in Frankreich finden

Kein vorübergehender Schutz für Wirtschaftsflüchtlinge

Im Hafen von Zarzis, einige Kilometer südlich von Djerba, treten viele der Flüchtlinge die lange, ermüdende und gefährliche Überfahrt zur italienischen Insel Lampedusa an. Vor Ort versucht Italien, den Flüchtlingsstrom zu bewältigen, indem es sich auf die Solidarität – vor allem aber auf die gemeinsame Verantwortung der EU-Staaten – beruft. So forderte die italienische Regierung die Anwendung der EU-Richtlinie 55 aus dem Jahr 2001 über die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen, die eine ausgewogene Verteilung der Belastungen auf alle Mitgliedsstaaten sicherstellen soll. Am 12. April lehnte der Rat der europäischen Innenminister die Anwendung der Richtlinie mit der Begründung ab, dass es sich im aktuellen Fall um „Wirtschaftsflüchtlinge“ handle und nicht um eine Bevölkerung, die vor einem bewaffneten Konflikt fliehe. Als Antwort darauf stattete Italien mehrere tausend Flüchtlinge mit sechsmonatigen Aufenthaltsgenehmigungen für den gesamten Schengen-Raum aus, die allerdings keine Arbeitsgenehmigung beinhalten.

In Frankreich wartet der Polizeigewahrsam

Ein Märchen für Kinder? Hier eine Briefmarke der Togolesischen Republik aus dem Jahr 1983.Nach dem Hieb, den Italien den Mitgliedsländern mit seiner Aktion versetzt hatte, ließen die feindseligen Reaktionen der Nachbarstaaten nicht lange auf sich warten. Frankreich hielt das Schengen-Abkommen hoch, nachdem Ausländer während des Aufenthalts im Schengen-Raum einen Pass sowie ein tägliches Mindesteinkommen von 62 Euro pro Person (31 Euro für Personen mit Unterkunft) vorweisen müssen. Das Land erhöhte seine Polizeikontrollen drastisch, vor allem in der Grenzregion, aber auch in Paris, wo bereits zwischen hundert und zweihundert Migranten in Polizeigewahrsam genommen wurden. „Nach einer Essensausgabe des Roten Kreuzes teilte ihnen die Polizei mit, dass sie das französische Staatsgebiet verlassen müssen“, präzisiert Rodolphe vom Verein Sôs Sans Papiers, der sich um illegale Einwanderer kümmert. „In einer Woche werden sie abgeholt. Sie machen es genau wie in Calais. Solange sich die Migranten unauffällig verhalten, passiert nichts. Aber hier haben sie den Fehler gemacht, sich zu versammeln. Immerhin sind sie jetzt so wütend über ihre Behandlung, dass sie dies auch weiterhin tun.“

Menschenrechtsverbände prangern die Heuchelei der französischen Regierung an, denn „während die geschriebenen Gesetze angewendet werden, wird der Verstand ausgeschaltet“, empört sich Pierre Henry, Geschäftsführer des Vereins France Terre d’Asile, der sich der Asylpolitik widmet. Henrys Vorschlag: „Wir müssen diese Krise bewältigen und zwar indem wir die Migranten auf würdige Art und Weise vorübergehend bei uns aufnehmen, um dann mit Tunesien über ihre Rückkehr zu verhandeln.“ Der Pariser Bürgermeister, Bertrand Delanoë, denkt ebenso und kündigte die Unterstützung verschiedener gemeinnütziger Vereine an, um den 200 Migranten, die aktuell „in sehr prekären Verhältnissen“ im Pariser Stadtgebiet leben, zu helfen.

Die Flüchtlingswelle überflutet Tunesien, nicht Europa

In Europa sehen wir nur die Spitze des Eisbergs. Zwar kommt es an der italienisch-französischen Grenze zwischen Ventimiglia und Menton durchaus zu Spannungen, da die Migranten von den Behörden am Passieren der Grenze gehindert werden. Das ganze Ausmaß der Flüchtlingsströme, die durch die Revolutionen im Mittelmeerraum ausgelösten wurden, ist jedoch nicht hier zu beobachten, sondern an der Grenze zwischen Libyen und Tunesien. Den Zahlen des Hohen Flüchtlingskommissariats der UN (UNHCR) zufolge (datierend vom 1. April) haben mittlerweile 204 751 Menschen Libyen in Richtung Tunesien verlassen, 183 953 davon über den Grenzübergang in Ras Ajdir. 147 045 Flüchtlinge wurden bereits in ihre Heimatländer zurückgeschickt. Zu den Hochzeiten des Exodus kamen täglich 14 000 Immigranten in Tunesien an, momentan sind es zwischen 2 000 und 4 000 pro Tag. Ein Großteil der tunesischen Migranten nach Europa stammt aus Südtunesien und ihr Einkommen hängt stark von den Wirtschaftsbeziehungen zwischen ihrem Heimatland und den Nachbarstaaten ab. Den einzigen Ausweg aus dem Arbeitsverlust sehen viele im Exil. „Oft wird ein Familienmitglied ausgesucht, das das Land zum Arbeiten verlassen muss“, erklärt Noureddine Mechkane, Sekretär des Verbandes der Tunesier in Frankreich ATF (Association des Tunisiens en France) mit Sitz in Paris. Dieses Familienmitglied ist durch sein Exil also für weitaus mehr verantwortlich als nur sein eigenes Überleben. Die Art und Weise wie Frankreich mit der Situation umgeht, ist für Noureddine Mechkane, den Vertreter der tunesischen Gemeinschaft, völlig unverständlich: „Dieses Verhalten macht keinen Sinn hinsichtlich der freundschaftlichen Beziehungen, die zwischen den beiden Ländern immer bestanden haben.“

Laut UNHCR haben seit Konfliktbeginn in Libyen 204 751 Menschen die Grenze überquert.

Frankreich und Tunesien: Was wird aus dem binationalen Abkommen zur solidarischen Entwicklung?

Wenn es sich ein Land wie Tunesien mit zehn Millionen Einwohnern erlaubt, hunderttausende Flüchtlinge aufzunehmen, obwohl es gerade erst die eigenen Krise (zumindest vorübergehend) überwunden hat, warum kann dann die EU mit etwa 500 Millionen Einwohnern nicht eine gemeinsame Lösung für ein paar tausend Migranten finden? Zumal Frankreich und Tunesien am 28. April 2008 ein bilaterales Abkommen unterzeichnet haben, das Absprachen beim Umgang mit Flüchtlingen sowie die Erleichterung der Migration zwischen den beiden Ländern vorsieht. Die solidarische Zusammenarbeit sollte ursprünglich die Integration von mehr als 9000 tunesischen Fachkräften pro Jahr in Frankreich ermöglichen. Doch von der Erfüllung dieser Quote ist man heute weit entfernt.

Fotos: Homepage (cc)Dr John2005/flickr; Migrants Lampedusa: (cc)noborder network/flickr; Timbre poste: (cc)Paul-W/flickr; Migrants en Tunisie: (cc)United Nation Photos/flickr

Translated from R.I.P : la solidarité européenne face au printemps arabe