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Montenegro: Der lange Schatten des Milo D.

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Montenegro ist das einzige Land des westlichen Balkans, in dem der Bürgerkrieg nie stattgefunden hat – auch wenn Montenegro seinerseits Truppen in benachbarte Gebiete schickte und Kriegsverbrechen beging. Auch in anderer Hinsicht ist das Land ein Sonderfall: Anders als Gleichaltrige in den Nachbarländern hat die Jugend Montenegros in den letzten 25 Jahren keinen Regierungswechsel erlebt.

Es ist ein ungewöhnlich ruhiger Sonntagmorgen in der montenegrinischen Hauptstadt Podgorica. Die halbleeren Straßen verraten nichts über die aktuelle politische Lage der Nation: Morgen wird im Parlament eine Vertrauensabstimmung stattfinden.

Ilija Gajević, ein Literatur- und Sprachenstudent, ist davon überzeugt, dass der montenegrinische Premierminister Milo Đukanović an der Macht bleiben wird - so wie schon in den letzten 25 Jahren.

Wir treffen Ilija im Park, vor der Statue von Petar II Petrović-Njegroš - dem berühmten montenegrinischen Dichter, Reformer und demokratischen Herrscher aus der Petrović-Dynastie. Mit hörbarer Enttäuschung in der Stimme sagt Ilija: „Ich frage mich, was Njegroš von uns denken würde, wenn er uns jetzt sehen könnte. Vielleicht ist es besser, dass wir nicht wissen, was er denkt.“

Eine schrecklich korrupte Familie

Ilija war noch nicht geboren, als Đukanović begann, den Weg für seine politische Karriere zu ebnen. Als junges Mitglied von Titos Partei [der Bund der Kommunistischen Jugoslawiens; A.d.R.] stieg Đukanović bis zur Spitze des Bundes der Kommunisten Montenegros auf, dank der anti-bürokratischen Revolution in den späten 1980ern. Damals fanden Massenproteste der mit der wirtschaftlichen Situation unzufriedenen Bürger statt - und diese Bürger begannen, mit der Idee des Nationalismus zu flirten: Eine Idee, die sich im ganzen Land verbreitete und die alte Parteiführung zum Rücktritt zwang. Die leeren Sitze wurden von Milo Đukanović und seinen engsten Freunden und Verbündeten übernommen.

Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus wurden im Dezember 1990 die ersten parlamentarischen Wahlen Montenegros abgehalten. Wenig überraschend gewann der Bund der Kommunisten mit überwältigender Mehrheit und änderte seinen Namen bald in Demokratische Partei der Sozialisten Montenegros (DPS). In den letzten 25 Jahren hat die DPS Montenegro regiert. An seinem 29. Geburtstag, dem 15. Januar 1991, wurde Milo Đukanović zum ersten Mal zum Premierminister gewählt - und so zum jüngsten Premierminister Europas.

Ilija wurde eineinhalb Jahre später geboren. Im Laufe seines Lebens hat er keinen Regierungswechsel miterlebt, obwohl er in einer parlamentarischen Demokratie lebt und bei vergangenen Wahlen bisher dreimal gewählt hat. „Ich habe nicht einmal daran geglaubt, dass ein Regierungswechsel möglich ist“, sagt Ilija.

Đukanović hat sieben Mal die Rolle des Premierministers übernommen sowie eine Amtszeit als Präsident von Montenegro. Zwar trat er zweimal kurz zurück, um sich privaten Geschäftsangelegenheiten zu widmen - kehrte aber später zurück, um die Basis der DPS zu stärken.

Dem britischen Independent zufolge belegt Đukanović Platz 20 der Liste der reichsten Politiker weltweit. Seine engste Familie ist ebenfalls sehr reich: Der Bruder des Premierministers, Aco Đukanović, ist Besitzer der PrvaBanka (Erste Bank) - die einzige Finanzinstitution, die während der Finanzkrise 2008 umfangreiche Hilfen in Höhe von 44 Millionen Euro erhielt.

Die Schwester des Premierministers, die erfolgreiche Anwältin Ana Kolarević, war in den montenegrinischen Telekom-Skandal involviert: 2005 wurde die nationale Telekom-Gesellschaft unter fragwürdigen Umständen privatisiert. Den Untersuchungen von US-Ermittlern zufolge hat eine ungarische Telekom-Tochtergesellschaft mehrere montenegrinische Beamte mit insgesamt 7,35 Millionen US-Dollar bestochen, um die montenegrinische Telekom-Tochtergesellschaft zu erwerben. Angeblich war unter den bestochenen Beamten eine Anwältin - die Schwester des „höchsten Regierungsbeamten“.

Zugang durch Parteimitgliedschaft

Montenegro hat 620.000 Einwohner, davon sind 40.000 arbeitslos. Der Arbeitsagentur von Montenegro zufolge ist ein Drittel der Menschen unter 30 arbeitslos.

Der 28-jährige Aleksa Bečić, Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei (SDP) - der montenegrinischen Oppositionspartei - betont, dass Arbeitslosigkeit in Montenegro ein umstrittenes Thema sei. Der Hauptgrund für die hohe Arbeitslosigkeit sei ihm zufolge die Vetternwirtschaft der Politiker und die weitverbreitete Korruption innerhalb öffentlicher Institutionen. 

„Unser fundamentales Wertesystem, das Rückgrat und die Grundlage der Gesellschaft, wurde zerstört. Qualität, Expertise und Bildung spielen eine unbedeutende Rolle für den Erfolg junger Menschen. In Wirklichkeit ist es eine Parteimitgliedschaft, die ihnen Zugang und Chancen sichert“, sagt Aleksa.

Aber die seit einem Vierteljahrhundert andauernde Herrschaft der DPS ist lokalen und internationalen Nachrichtenquellen zufolge befleckt mit Wahlbetrugsvorwürfen. 2013 wurde ein Skandal öffentlich: Die DPS hatte Staatsmittel und öffentliche Gelder verwendet, um bei den Parlamentswahlen 2012 Wählerstimmen zu kaufen.

„Erinnerst du dich an die berühmte Behauptung von Zoran Jelić [ehemaliger Leiter der Arbeitsagentur; A.d.R.]“, fragt Aleksa, „als er während eines Parteitreffens sagte, dass jedes Parteimitglied vier Wählerstimmen wert ist?“ Das Büro des Staatsanwaltes antwortete später, dass „keiner der Teilnehmer [des Parteitreffens; A.d.R.] irgendeinen Gesetzesverstoß begangen hat“, weshalb der Fall nie als Klage eingereicht wurde. Jelićs Ehefrau, Vukica, übernahm später die Leitung ebenjener Arbeitsagentur, Jelić sitzt für die DPS im Parlament.

Die Jugend-Armee der DPS

Der DPS-Jugendrat, die Jugendorganisation der DPS, hat ungefähr 15.000 Mitgliedern – das ist mehr als die Wählerschaft einiger der anderen im Parlament vertretenen Parteien und macht den Rat zur größten Jugendorganisation Montenegros. Seine hierarchische Struktur ist die gleiche wie die der frühen DPS, mit 23 kommunalen Gremien und hunderten lokalen Gemeinschaften, in denen jeder eine Rolle zu spielen hat.

Nikola Pešić, ein 27 Jahre alter Wirtschaftsmanagement-Absolvent, ist Kopf des DPS-Jugendrats. Er wünscht sich eine erfolgreiche politische Karriere, aber er weiß, dass er nicht an die Stelle seines politischen Idols wird treten können: „Es kann immer nur einen und einen einzigen Milo Đukanović geben. Es wird nie wieder jemand wie er geboren werden“, sagt Nikola.

Gefragt, ob er in Zukunft lieber Teil einer legislativen oder einer exekutiven Institution wäre, antwortet Nikola, er sehe sich selbst als Minister, aber: „Ich bin darauf vorbereitet dort zu arbeiten, wo auch immer meine Partei mich braucht und wo auch immer meine Partei glaubt, dass ich am meisten beitragen kann.“

Anders als Ilija findet Nikola nichts kontrovers an der Tatsache, dass Montenegro seit einem Vierteljahrhundert von demselben Mann regiert wird. Aber er gibt zu, dass das, was in Montenegro beobachtet werden kann, verglichen mit anderen europäischen Demokratien die Ausnahme ist.

„Ich bin stolz und geehrt, Teil einer Organisation zu sein, die turbulente Zeiten überstanden und es geschafft hat, so lange an der Macht zu bleiben“, sagt Nikola mit einem Lächeln.

„Ihr hattet euren Spaß, jetzt nehmt eure Sachen und haut ab“

Die Gegner der DPS organisieren unregelmäßig Proteste, vor allem ausgelöst durch nationale Probleme. Spaltungen zwischen Montenegrinern und Serben sind schon immer ein heißes Thema gewesen - besonders seit dem Referendum 2006, in dem Montenegro für seine Unabhängigkeit von Serbien stimmte. Die DPS nutzt diese nationale Teilung immer noch, um wirkliche gesellschaftliche Probleme zu vertuschen.

„Themen wie beispielsweise häusliche Gewalt und Gewalt gegen die LGBT-Gemeinschaft, oder Lohntarife und Altersvorsorge für Angestellte, gelten als weniger wichtig“, sagt Aleksandar Novović. Vor fünf Jahren, als er begann, Studentenproteste zu organisieren, hatte er noch ein ganz anderes Bild vor Augen.

In den letzten 25 Jahren haben Jugendproteste es nur einmal auf die nationale Ebene geschafft: 2011, als Studierende bessere Bildungsbedingungen und -chancen forderten. Mehrere tausend Demonstrierende gingen auf die Straßen und boten Hoffnung auf etwas, was so ähnlich wie der „Arabische Frühling“ hätte werden können. Aleksandar war bei den Protesten ganz vorne dabei, zusammen mit seinen Kollegen von der Fakultät für Politikwissenschaften.

„So wie es stand, hätten die Studierenden aus ihren kleinen Welten herauskommen und mehr fordern sollen als nur studentische Leistungen wie günstigeres Essen in den Kantinen und kostenfreie Bildung. Die Studierenden hätten als Bürger und Bürgerinnen handeln sollen, und sie hätten sich selbst nicht erlauben dürfen, blind für andere Probleme zu sein“, findet Aleksandar. 

Die Hoffnungen wurden nie erfüllt. Später stellte sich heraus, dass die offiziellen Repräsentanten der Studierenden DPS-Parteiausweise besaßen. Nicht lange danach war es vorbei mit dem Gedanken einer Rebellion.

„Wir konnten im Prinzip nur deshalb demonstrieren, weil das System es uns erlaubt hat. Aber nach einer Weile wurde uns gesagt: ‚Ihr hattet euren Spaß, jetzt nehmt eure Sachen und haut ab‘“, so Aleksandar.

Stiller Widerstand gegen das System

Aleksandar lebt nun mit seinem Vater und seiner Freundin in den Außenbezirken von Podgorica, an einem Ort namens Mareza. Er hält Ziegen, plant, sich bald Hühner anzuschaffen, baut Gemüse an und isst hauptsächlich Dinge, die er auf seiner Farm produziert. Er glaubt: „Gleichgültig, wie einfallsreich und kreativ wir sein wollen, wir können dem Rahmen nicht entkommen, den das System etabliert hat. Das System sagt uns, was wir tun können und was nicht.“

Aleksandar hat beschlossen, sich dem System zu widersetzen, indem er ein eigenes Leben auf dem Land erschafft - eine stille, aber beharrliche Form des Widerstands gegen das System. Aleksandar hat ein „urban gardening“-Projekt ins Leben gerufen und Menschen dazu eingeladen, auf seiner Farm Gemüse anzupflanzen - eine soziale Initiative, die für die Öffentlichkeit kostenlos ist.

„Das Problem mit der heutigen Jugend ist, dass sie nicht bereit ist, Risiken einzugehen und impulsiv zu sein. Leute, die Künstler werden oder um die Welt reisen wollen, können das nicht, weil sie vor allem erst einmal zu essen haben müssen. Also geben sie ihre Träume und Ziele auf, machen miese Jobs und eine Reihe von Kompromissen“, stellt Aleksandar fest.

Seine ehemalige Kommilitonin Ana Bogavac sagt, sie sei nicht bereit, Kompromisse zu machen. Sie ist Journalistin mit einem Master-Abschluss in Politik- und Kommunikationswissenschaften von der London School of Economics and Political Science. Momentan hat sie keinen festen Job, weil sie unter den aktuellen journalistischen Bedingungen in Montenegro nicht arbeiten will.

„Das, was ein Großteil der Medien heute veröffentlicht, ist kein Journalismus. Ich bin nicht bereit, zu arbeiten und ein Gehalt zu beziehen, um das zu sein, was die als ‚Journalisten‘ betrachten“, sagt Ana entschieden.

Sie glaubt, dass der Schlüssel zur Lösung der Probleme in Montenegro darin besteht, eine neue Generation auszubilden. Das würde es für die Menschen einfacher machen, die traditionellen montenegrinischen Ressourcen - fruchtbares Land, eine wunderschöne Küste, Bauxit-Vorkommen - zu erkunden und zu nutzen. Ana zitiert stolz ihren Freund Vuk Uskoković:

„In den letzten 25 Jahren hat die Regierung ihre Unfähigkeit bewiesen, diese Ressourcen zu nutzen. Die Tatsache, dass ein mediterranes Land, welches reich an natürlichen Ressourcen ist, sich in einer solch schlechten wirtschaftlichen Verfassung befindet, ist nicht nur das Resultat von politischer Gier und Anmaßung, sondern auch von erheblicher Ignoranz und Unfähigkeit.“

Das Prinzip Hoffnung

In der Zwischenzeit hat Milo Đukanovićs Regierung es geschafft, die Vertrauensabstimmung im Parlament zu gewinnen. Obwohl der kleinere Koalitionspartner SDP seine Unterstützung der DPS zurückgezogen hat, setzte sich Đukanović durch, dank der Stimmen der PozitivnaCrnaGora [kurz: Pozitivna, eine Mitte-Links-Partei; A.d.R.] - eine Oppositionspartei, die seitdem von der politischen Bühne verschwunden ist, aber immer noch einige Sitze im Parlament hat. Wieder einmal hat politische Korruption triumphiert.

„Es ist jetzt so offensichtlich, wie sie das politische System missbrauchen. Und je mehr wir uns dessen bewusst werden, desto größer werden die Gelegenheiten, das System zu verändern“, sagt Ilija. „Es ist an der Zeit, in Montenegro eine wirkliche Bürgerschaft zu schaffen.“

Die erste Gelegenheit für tatsächlichen Wandel bietet sich im Oktober, wenn die Parlamentswahlen stattfinden. Nachdem er unzählige Male des Wahlbetrugs beschuldigt wurde und um den bevorstehenden Wahlvorgang zu unterhöhlen, hat Premierminister Milo Đukanović der Opposition nun vier Ministerposten angeboten sowie den Posten des Vizepräsidenten.

Es ist das erste Mal in der politischen Geschichte Montenegros, dass die Opposition eine Chance hat, eine Rolle in der Regierung zu übernehmen. Wenn der Oktober kommt, wird Ilija vielleicht doch noch eine Veränderung erleben.

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Text: Jelena Kulidžan

Fotos: Tomislav Georgiev

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25 Jahre nach Ausbruch der Balkankriege will Balkans & Beyond originelle Geschichten erzählen und Gesichter der jungen Generation aus Bosnien, Mazedonien, Kroatien, Kosovo, Slowenien, Serbien und Montenegro zeigen, eine Generation, die bereit ist zu vergeben aber nicht zu vergessen. Das Projekt wird von der Allianz Kulturstiftung und cafébabel Berlin getragen.

Story by

Translated from Montenegro: New youth, old power