"M wie Mafia": Schluss mit bulgarischen Komplexen
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Tanja ToplakIm Januar 2009 verbot der damalige Bürgermeister Sofias und heutige Premier Bulgariens regierungskritische Protestaktionen von Bürgern, die die korrupten Verhältnisse in ihrem Land bemängelten. Laut Transparency International ist Bulgarien nicht nur das ärmste EU-Land, sondern auch der Staat mit der höchsten Korruptionsrate.
Auch ein Jahr nach den Demos besteht in Sofia eine „Protest-Kultur“ fort, genährt durch die städtische, kulturelle und mediale Zersplitterung einer in Vergangenheit und Traditionen verwurzelten Gesellschaft.
„Solche Events sind selten“, erklärt Elena Stoyanova Dimitrova in der Eingangshalle von Radio Bulgarien. „Die Underground-Bewegung hat eber immer deutlichere Ausdrucksformen. Seit 2009 wurde da eine richtige Welle losgetreten“. Die 28-jährige Studentin und Schauspielerin ist nur eines der wohlbekannten Gesichter im Publikum der Live-Aufzeichnung eines Punk-Jazz Konzerts, die oft an Protesten und Demonstrationszügen in Sofia teilnehmen. Doch was kürzlich noch als Kundgebung begann, endete in Ausschreitungen. Die britische Zeitung The Observer titelte damals: „Wir haben die Nase voll davon, im korruptesten Land zu leben. Der Protest eint die Menschen in ihrem Wunsch, in einem ganz normalen europäischen Staat zu leben.“ „Die Polizei hat meine Freunde verprügelt“, so der Soziologiestudent Ljubo Pozhaliev. „Jeder Protestaufmarsch in Sofia wird im Keim erstickt“. In einem Café gegenüber der Alexander-Newski-Kathedrale scherzen zwei Männer in Lederjacken und Jeans mit einer Kellnerin. „Die Mafia ist allgegenwärtig, sie steckt überall.“
Urbane Markenzeichen
Elena arbeitet im Butcher‘s Club, wo heute die DJs von Studio Dauhaus auflegen. Das Motto des in Sofia ansässigen Kollektivs: „Kunst ist/ als Widerstand“. Mitbegründer Yovo Panchev, 28 Jahre alt, bezahlte Miete in Höhe seines Einkommens für das Fabrikgelände, Ivo Ivanov und Kalin Angelov halfen bei der Finanzierung und der Konzeption des Projekts. Die „inoffizielle Einheit für kulturelle Entwicklung zur Förderung einer nachhaltigen und unabhängigen Kultur“ war die erste ihrer Art, die Partys in Fabrikhallen veranstaltete und die regelmäßig Talente aus der Musik-, Film- sowie Kunstszene aus ganz Europa empfing. „Wir fingen 2005 damit an, um der Kunst, aber auch unserer Gesellschaft einen Dienst zu erweisen. Das Ganze lief dann unter moralischen Aspekten auf einen ziemlich großzügigen Deal hinaus. Wir entwickelten außerdem einen Service für Event- und Projektmanagement.“
2007 wurde das Gebäude jedoch von einem einflussreichen Oligarchen aufgekauft und anschließend zerstört. „Das heutige Durcheinander ist das Ergebnis des politischen Umbruchs von 1989. Die Regierung riss sich das Geld unter den Nagel und schob es der Mafia zu, um danach mit Hilfe dieses Geldes demokratisch legitimiert wieder an die Macht zu kommen. Macht in diesem Land ist entweder wirtschaftlich oder politisch fundiert. Das ist das Markenzeichen dieses Staates.“
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus wurden laut dem Nationalen Statistikinstitut bis zum Jahr 2000 99,7% der in Sowjetzeiten besetzten Ländereien an ihre rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Anderen Gebäuden, wie zum Beispiel einer alten Zuckerfabrik in Bahnhofsnähe, die im November im ganzen Land für Schlagzeilen sorgte, droht langsam aber sicher der Verfall. “Das ist ein echtes Kulturdenkmal“, meint Tristan Lefilleul, Herausgeber des Courrier des Balkans. „Die Fabrik kann nicht einfach abgerissen und dann neu aufgebaut werden - außer, sie bricht von selbst zusammen, dann schon.“ Yovo, der am staatlichen Kulturinstitut arbeitet, ist frustriert. „Die Leute sind sich nicht bewusst, wie wichtig Kultur ist. Für ein EU-Projekt zum Bau eines Künstlerwohnheims im benachbarten Dorf habe ich für die Erstellung eines Business-Plans um Hilfe gebeten. Der dafür zuständige Typ verdient sein Geld mit dem Schreiben von EU-Projekten; er hat EU-Gelder für 40 Herbergen und 60 Hotels zur Verfügung - warum die EU das unterstützt ist mir ein Rätsel - aber er hat es einfach nicht kapiert.“
Papier, Plastik und Rolling Stone
The Apartment, zugleich Bar, Konfiserie- und Teesalon in der Neofit Rilski Straße 68, beweist, dass einige alternative Projekte durchaus funktionieren. Eine tibetanische Flagge schmückt den Eingang des über 100 Jahre alten Hauses, einer ehemaligen Geburtsklinik, die zur kommunalka - zu Gemeindebesitz erklärt wurde. Der frühere Millionär Plamen hat sie für sechs Jahre gemietet. Aus dem Privatclub wurde 2007 ein Interessenverband.
Auch A:part:mental ist eine Nichtregierungsorganisation zur „Förderung einer neuen Kultur, die aus der Kreativität und der gegenseitigen Abhängigkeit von Mensch und Natur heraus entstehen soll.“ Regelmäßig wird kostenloses Kino im Grünen veranstaltet; organische und vegetarische Küche werden angeboten und es gibt sogar eine Bibliothek. Auf einem Regal liegt eine Ausgabe des One Magazine. Die 2001 gegründete, unabhängige Zeitschrift erscheint jeden Monat und ist eine weitere künstlerische Plattform zur Schaffung von Sofias neuer, alternativer Identität. Jedes Jahr veranstaltet One Magazine die Sofia Design Week, Sofia Dance Week und Sofia Architecture Week. Die Zeitschrift, die von einem bekennenden Homosexuellen geleitet wird, richtet sich gegen das Establishment, ohne es jedoch direkt anzugreifen: „Wir werden als abgehoben oder als Intellektuelle empfunden“, erklärt der künstlerische Leiter der Zeitschrift, Vassil Iliev. „One Magazine wird vor allem von den im Ausland lebenden Bulgaren geschätzt, denn die bulgarische Gesellschaft setzt noch immer auf Heldenfiguren des letzten Jahrhunderts“, erklärt der Kulturredakteur Ivavlo Spasov.
Im November 2009 kam erstmals Rolling Stone Bulgaria (RSB), der Ableger der US-Musikzeitschrift, heraus und warb mit Slogans wie „Chalga (bulgarischer Folklorepop) ist beschissen“. „Erst jetzt kommt die Gesellschaft langsam in den Genuss einiger Aspekte des westlichen Modells der Medienfreiheit“, berichtet die 22-jährige Chefredakteurin Anelia Ilieva. Der ehemalige TV-Moderator Nayo Titzin ist da anderer Meinung. „Die Realität in Sofia ist eine andere: der Chefredakteur der bekanntesten Zeitung ist ein ehemaliger Geheimdienstmitarbeiter. Erst jetzt werden neue Medien geboren.“
„Das mag schon sein“, gibt Anelia zu. „Aber RSB würde sich nicht unter Druck setzen lassen und Einmischung von außen dulden. „Wir stehen nicht im Dienst irgendeiner politischen Fraktion.“ One Magazine-Chefredakteurin Bistra Andreeva sieht RSB „weniger als Experiment. „[RSB] schreibt über alles, von Lady Gaga bis Rammstein, und liegt dadurch auf einer Linie mit dem Lifestyle der bulgarischen Gesellschaft.“In vielen Ländern wird Rolling Stone heute als nicht mehr zeitgemäß verlacht. Der Neuanfang auf dem Balkan bedeutet eine Wende in einem Land, in dem „Chalga“ nach wie vor die herrschende Erinnerung an die Fesseln der sozialistischen Vergangenheit ist. Titzin, der 2003 seine Arbeit als Journalist aus Enttäuschung über die 'alte Garde' beendete, will nun die operierten Chalga-Sängerinnen als Inspiration für eine Reportage nutzen. Während junge Paare am breiten, zum Boulevard Vitosha gerichteten Fenster vorbeischlendern, erklärt er, dass jene Reportage ‚ „The SILKON Valey“ ‚ gerade von seinen Produzenten bei Spotlight begutachtet wird. Sie soll aufzeigen, warum Familien Geld für die Schönheitsoperationen ihrer Töchter ausgeben, damit die Mafiabosse an ihnen Gefallen finden.
Finanzielle Unterstützung vom Staat wird es für die Reportage wohl nicht geben. „Der Kapitalismus kann in dieser eigentlich traditionsgebundenen Gesellschaft nur schwer Fuß fassen“, meint Yovo. „Wir haben weder Bürgertum noch Aristokratie. Nur ein schwaches, kollektives Gedächtnis, das sich von Instinkten leiten lässt. Man sagt, jedes Land hat eine Mafia, aber hier in Bulgarien hat die Mafia ihr eigenes Land. Ich sehe das nicht so.“ Die Mafia hält die Gesellschaft am Laufen.
Vielen Dank an Clea Caulcutt, Camelia Ivanova, Lyubo Pozharliev und das cafebabel.com Team in Sofia. Hier mehr auf unseremSofia-Bloglesen.
Fotos: ©Jan Machacek ©Studio Dauhaus/ Rolling Stone Bulgaria official Facebook page; Video September 2009 ©SofiaDanceWeek09/ Youtube
Translated from The 'M' word: breaking the Bulgarian complex