Participate Translate Blank profile picture
Image for Kosovo: Jäger der verschollenen Knochen

Kosovo: Jäger der verschollenen Knochen

Published on

Translation by:

Katha Kloss

GesellschaftPolitik

Vierzehn Jahre nach dem Kosovokrieg bleibt die Suche nach den Überresten Verschollener eine soziale Notwendigkeit.

Jeden Morgen um acht kommt Alan Robinson im Büro an – der 'morgu', wie man die Leichenhalle des öffentlichen Krankenhauses von Pristina auch nennt. Das blass ockergelbe Gebäude liegt zwischen einem Parkplatz, der psychiatrischen Abteilung und großen Zelten, auf denen das Symbol des Roten Kreuzes zu sehen ist. „Dort werden die Überreste der verschollenen Personen aufbewahrt, nachdem man sie identifiziert und durchnumeriert hat. Haben sie schon gefrühstückt?“ Solide Statur, durchdringlicher Blick und Lederarmbänder: der Look von Robinson erinnert eher an Indiana Jones als an einen Gerichtsmediziner.

Zeremonien zur Übergabe der menschlichen Überreste

Der 39-jährige, in Mexiko geborene Brite ist der stellvertretende Chef der Gerichtsmedizinischen Abteilung der europäischen Mission EULEX (Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo). Eigentlich ist er studierter Archäologe. Doch Ende der 1990er Jahre macht er einen Abstecher in die Gerichtsmedizin, insbesondere interessiert sich Robinson für die Opfer der Militärdiktatur in Guatemala. „Diese Art von Mission ist ein Dienst für die Gesellschaft: sie ist wichtig für den Wiederversöhnungsprozess einer ganzen Nation.“

Heute macht sich Robinson mit seinem Team auf den Weg aufs Terrain im Süden des Landes. „Der neue Inhaber eines Bauernhofes hat einen verstopften Brunnen signalisiert. Und er meint, es könnten tote Körper dort verborgen sein.“ Vierzehn Jahre nach den Konflikten im Kosovo sind die Hebungen und die so genannten „hand over celebrations“ – die offiziellen Zeremonien der Übergabe der menschlichen Überreste – immer noch der Alltag der Gerichtsmedizin in Pristina. „Kleine Kartons mit den Überresten werden Angehörigen übergeben, um eine würdevolle Beerdigung zu ermöglichen.“

Am 17. Februar 2013 jährt sich die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, die Serbien, Griechenland, Bosnien und Herzegowina, Spanien, die Slowakei & Rumänien nicht anerkannt haben, zum 5-ten Mal

Laut Statistiken des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes (CICR) sind immer noch 1799 Personen infolge des Kosovokriegs als verschollen gemeldet. Um ihrer zu gedenken, existieren 22 offizielle Vereine: Da gibt es die Familien verschollener „Albaner“ und die der verschwundenen „Serben“. „Es ist jedoch unmöglich, die ethnische Zugehörigkeit anhand der gefundenen und oft verkohlten Knochenreste zu bestimmen“, mildert Robinson ironisch ab. „Wir wollen unpolitisch bleiben.“

Das Wetter ist himmlisch: Bewaffnet mit ihren Sonnenbrillen, begeben sich Robinson und sein 10-köpfiges Men-in-Black-Team aus Übersetzern, Lokalpolizisten, Assistenten an Bord eines großen Geländewagens, der das Symbol der Europäischen Union trägt. 2011 hat der Bereich der Gerichtsmedizin fast 350 Grabungen vorgenommen und insgesamt 42 Leichen geborgen. 51 Vermisste konnten identifiziert werden und 79 Überreste konnten an Angehörige übergeben werden. „Unsere Mission macht Hoffnung, die simple statistische Analysen nicht geben kann. Gerechtigkeit zu erfahren ist ein extrem langer Prozess, der sich über mehrere Generationen hinziehen kann“, unterstreicht Robinson.

Gelbes Band, Zigarillo und Schenkelknochen

Einmal in Orahovac/Rahovec angekommen, stellt sich das Team den Einwohnern vor, bevor es die Zeitzeugen eher älteren Kalibers mit Fragen löchert. Der Ort der Grabungen befindet sich direkt neben einer Moschee, vor einem großen Bauernhof, der gut in Schuss ist. Alan Robinson bestimmt einen Raum von ungefähr zehn Metern, der anschließend mit gelbem Band abgesteckt wird, wie am Ort eines Verbrechens. Dann legen die Assistenten mit der Arbeit los, kämmen das Gelände minutiös durch und stecken kleine Fahnen in die Erde, wenn sie glauben, auf etwas gestoßen zu sein. Dann beginnen andere Assistenten unter dem wütenden Blick des Hofbesitzers zu schaufeln.

Undurchsichtige Dossiers, die Beerdigung einiger Opfer unter falschem Namen und die Wiederherstellung eines Skelettes mit den Knochen verschiedener Verschollener machen die Bevölkerung skeptisch in Bezug auf die Arbeit der UNMIK (Interimsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo), die heute von der EULEX abgelöst wird. „Ca. 6% der vom UN-Kriegsverbrechertribunal verwalteten Angelegenheiten mussten neu aufgerollt werden. Jetzt arbeiten wir ausnahmslos mit DNA-Tests, um die Opfer zu identifizieren. Es gehört zu unseren Aufgaben ein Expertenteam vor Ort auszubilden, das uns irgendwann ablösen kann. Denn EULEX wird nicht für immer im Kosovo bleiben.“ Robinson überquert das Gelände in großen Schritten und inspiziert über Kies und Steine gebeugt, dort ein Stück Holz, nein, es ist ein Schenkelknochen. Zigarette. Grabung. Zigarette. Viele Knochenreste werden schlussendlich geborgen, fein säuberlich vom Staub befreit, durchnumeriert und fotografiert, bis sie schlussendlich in « body bags » verschwinden.

Ein schwarzes Auto nähert sich langsam: Der Präsident der Regierungskommission für verschollene Personen in dunklem Anzug und mit Zigarillo im Mundwinkel macht einen kurzen Abstecher auf das Gelände. Hände werden geschüttelt, es wird geplaudert, sich umarmt. „Man erzählt, dass er am 1. Januar den Habitus hat, hausgemachten Rakia mitzubringen“, sagt Xani, einer der Assistenten von Robinson.

Ein alter Mann mit gezeichnetem Gesicht kniet nachdenklich nieder. Fast hypnotisiert wirkt er vom unaufhörlichen Ballett der mechanisch grabenden Schaufeln. Der Körper einer seiner Söhne, die während des Kosovokriegs verschollen sind, wurde nicht aufgefunden, erklärt eine Übersetzerin. „Solange wie die Familien nicht wissen, was mit ihren Angehörigen passiert ist, sind sie in ihrem Alltag blockiert.“ An diesem Wochenende wird Alan Robinson seinem Lieblingshobby nachgehen: dem Gleitschirmfliegen. Dabei wird er das Land der Schwarzdrossel aus der Vogelperspektive betrachten – nicht von unter der Erde. „Es ist wichtig, den Kopf frei zu kriegen.“

Illustrationen: Teaserbild (cc)khrawlings; Im Text: Newborn (cc)charlesfred, Orahovac (cc)un_photo/ alle flickr

Translated from Kosovo : dépouille et d’os