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Kasparas Pocius - 'Glocal'-Anarchist aus Litauen

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KulturPolitik

Der 27-Jährige ist zu jung, um als ‘Vater’ des heutigen Anarchismus in Litauen gebrandmarkt zu werden. Dennoch ist er als einer der Mitgründer von anarchija.lt in der Öffentlichkeit sehr präsent, wenn es darum geht, die anarchistischen Ideen Litauens vorzustellen.

Kasparas Pocius weigert sich, Teil des so genannten Prekariats zu sein - einer breiten Schicht von Leuten, die keinen sicheren Job oder ein geregeltes Einkommen haben. “Natürlich lebt man in Unsicherheit. Aber genau in dem Moment, wenn man aus der illusorischen Sicherheit der Routine ausbricht, die einem die ‘Gesellschaft des Spektakels’ bietet, öffnen sich zahlreiche Möglichkeiten zum Improvisieren und Experimentieren“, sagt er. Wie entwickelt sich ein Anarchist in einer Gesellschaft, welche die meisten linken politischen Ideen stigmatisiert und nichts zu "informellen Gemeinschaftsinitiativen" - wie beispielsweise der Freien Universität Vilnius (Laisvasis universitetas, LUNI) - beisteuert?

Der 27-Jährige erinnert sich, wie er als Kind an den litauischen Demonstrationen für die Unabhängigkeit teilnahm und die Singende Revolution des Baltikums mit verfolgte. “Ich beobachtete Dinge, die äußerst demokratisch schienen. Mein erster Eindruck war: urteilend, pathetisch, entartet“, erklärt er seine Desillusionierung mit den Idealen der ersten Jahre der litauischen Unabhängigkeit. “Euphorie wurde schnell durch realen Kapitalismus‚ ersetzt, der auf einer primitiven Ansammlung von Betrügereien auf nationaler Ebene basierte. Währenddessen löschten Entfremdung und die Privatisierung des Bewusstseins die Überreste eines kollektiven Bewusstseins aus.“

Von Seattle bis Paris: globale Inspiration

Die Ministerkonferenz der WTO, vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer, verhalf dem Entstehen kritischen Denkens in Litauen.

Welche Ereignisse beeinflussten ihn und andere Anarchisten in Litauen? Kasparas Geschichte beginnt in Seattle. “Am 30. November 1999 veranstalteten gesellschaftliche Bewegungen einen ‘Ball’ für die Mächtigen, welche an der Ministerkonferenz der Welthandelsorganisation teilnahmen“, sagt er über die Tagung, welche eine neue Runde von Verhandlungsgesprächen in Gang bringen sollte. “Kapitalistische Institutionen erhielten einen starken Hieb, die öffentliche Meinung begann an der Ideologie der freien Marktwirtschaft zu zweifeln, die Laster der kapitalistischen Globalisierung wurden diskutiert, man suchte nach Alternativen. Diese weltweit berühmte Veranstaltung, vergleichbar mit dem Fall der Berliner Mauer, verhalf dem Entstehen kritischen Denkens in Litauen.“

Die Kritik gegenüber der übertriebenen Konsumgesellschaft und Litauens unkritische Unterstützung dessen, was Pocius das "Modell der neuen amerikanischen Weltordnung" nennt, kam im neuen Jahrtausend in Schwung. Im Jahr 2000 etwa organisierten Punk-Aktivisten in Vilnius Anti-Nato Aktionen, die ein wachsendes globales Bewusstsein und eine Sensibilität gegenüber dem Weltgeschehen widerspiegelten. Und dann war da 2005 und die Geschichte des Lietuva-Kinos, das den Aufstand einer farbenfrohen Bürgerbewegung auslöste. Das Kino, das unter Jugendlichen aufgrund seiner alternativen Orientierung und aufregenden Festivals beliebt war, wurde von seinen neuen Besitzern, die es von der Gemeinde während der massiven Privatisierungskampage zu einem vergünstigten Preis gekauft hatten, geschlossen. Die Ausrede für die Schließung des Kinos war, dass es ‘keinen Profit einbrachte’.

Pocius erinnert sich nostalgisch an die Zeit zurück, als eine kritische Masse von Leuten trotz ihrer unterschiedlichen Werte gemeinsam gegen das Eindringen von Unternehmen in öffentliche Räume kämpfte. „Wir organisierten zwei Konferenzen, die sich den Themen der modernen Linken widmeten, um unseren örtlichen Linken globale Themen näher zu bringen. Der Verlag Kitos knygos (‘Andere Bücher’) veröffentlichte radikal-politische Literatur, die Debatten in der Gesellschaft auslöste. Also gründete ich zusammen mit dem Übersetzer Darius Pocevičius und dem Verleger Gediminas Baranauskas, das Medienportal anarchija.lt, das verschiedene politische und kulturelle Aktionen organisiert. Im Jahr 2008 gründeten wir die Freie Universität Vilnius, die als Gegengewicht zu den neoliberalen ‘Schurken’-Reformen des Hochschulwesens fungieren soll. Diese Aktion trug dazu bei, die Erfahrungen Frankreichs im Jahr 1968 wieder relevant zu machen."

Anarchija.lt

“Ich fühlte mich schon immer mehr zu den Strömungen des Anarchismus hingezogen, die die Bedeutung der Gemeinschaft hervorheben und nicht die individualistischen Strömungen“, sagt Pocius. Das Portal anarchija.lt wurde als Gegengewicht zu Fimenmedien gegründet. Die Arbeit des Teams besteht darin Nachrichten über die antikapitalistische Bewegung der Welt zu liefern. “Wir stehen dafür, dass Leute Gemeinschaften unabhängig beitreten, gemeinsam die Mittel und Früchte ihrer Arbeit nutzen, gegenseitige Hilfe, Emanzipation und Gleichberechtigung wiederentdecken - alles Voraussetzungen für das Reifen einer freien und kritischen Persönlichkeit“, behauptet Pocius. “Wir sind stolz darauf, dass das Portal als Indymedia (‘Unabhängiges Medienzentrum’) von Litauen gilt“, fügt er hinzu. Er erinnert sich aber auch an die Drohungen mehrerer Abgeordneter, das Portal zu verklagen, weil sie Anarchisten mit Sowjetkommunisten verwechselten. Und das, trotz der klaren anti-stalinistischen Haltung ersterer. “Im Mai wurde das Portal von Hackern angegriffen. Aber unsere Wachsamkeit wird es uns ermöglichen, die Beschwerden zu vergessen und paranoiden Übeltätern, die vor allem Angst haben, keine Aufmerksamkeit zu schenken.“

Die Russen des 19. Jahrhunderts, Mikhail Bakunin, ein Theoretiker des ‘kollektiven Anarchismus’ und Pyotr Kropotkin, sind zwei Denker, die Pocius inspirieren. Er zitiert auch ‘optimistische’ Autoren wie Antonio Negri, Paolo Virno und Nick Dyer-Witheford, die in Italien den autonomen Marxismus der sechziger Jahre bestimmten. 

Doch auch ‘pessimistischere’ Autoren, wie Franco Berardi-Bifo, der vor kurzem an der Freien Universität lehrte, gehören zu den Vorbildern. “Während der gegenwärtigen Krise in Litauen sollten wir uns an einen Ratschlag der Autonomisten erinnern: Lasst uns die Arbeit verweigern. In der Vergangenheit pflegten Französische Situationisten zu sagen: Arbeite niemals - erschaffe. Das Prekariat, von dem ich spreche, hat diesen Slogan wohl oder übel verinnerlicht. Es lebt nicht nur unter Bedingungen von permanenter Unsicherheit, sondern profitiert auch von den Vorteilen. Es ist an der Zeit, die Produkte der modernen Technologie-Gesellschaft zu nutzen, anstatt weiterhin das Joch von Arbeit und Ausbeutung zu ertragen.“ Kasparas führt an, dass Litauen 1910 nicht von der eSeR-Bewegung (sozialistische Revolutionäre) in Russland ausgeschlossen war. Dennoch wurden authentische Anarchisten in Russland von den “Orakeln der Diktatur des Proletariats“ und ihren Anhängern niedergeschlagen.

Es ist an der Zeit, die Produkte der modernen Technologie-Gesellschaft zu nutzen, anstatt weiterhin das Joch von Arbeit und Ausbeutung zu ertragen.

Heute ist Pocius mit der Freien Universität beschäftigt, die - um es mit seinen Worten zu sagen - eine “informelle Initiative für Selbstaufklärung“ sei. Die Initiative hat sich in verschiedenen Städten in Litauen ausgebreitet, die vorher keinen Zugang zum Hochschulwesen hatten. Er bereut es nicht, seinen Doktor in Geschichte an der Universität Vilnius abgebrochen zu haben. “Die Fähigkeiten, die ich als Historiker erworben habe, helfen mir bei der Recherche. Intellektuelle Ansprüche verschwinden nicht hinter den Grenzen der “etablierten“ Hochschulen. Wissen poliert sich selbst, es formt sich zu Handlungsstrategien.“ Heute verdient Pocius seinen Lebensunterhalt mit Übersetzungen. Er weigert sich, seine anderen freiwilligen Aktivitäten für Hobbys aufzugeben. Er besteht auf die Ernsthaftigkeit seiner Arbeit ist, die Denken und Lebensstil formt. Pocius hofft, dass er auch in Zukunft sein ideologisches Rückgrat behalten wird und “in den Gemeinschaften der Zukunft“ etwas zu teilen hat. Seine kurzfristigen Anliegen sind, für seine neu gegründete Familie zu sorgen (Kasparas heiratete ein paar Tage vor diesem Interview) und andere darin zu bestärken, das Leben zu lieben.

Hier im Blog der Autorin, ‘Wonderland’ stöbern.

Translated from Kasparas Pocius, not quite the father of Lithuanian anarchism in the millenium