Jeremy Corbyns unwahrscheinlicher Coup
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Juliane BüchnerDer 12.9.2015 war ein bemerkenswerter Tag für die britische Politik. Rivalen drängten die Wähler „jeden außer“ Jeremy Corbyn zu wählen - Tony Blair behauptete, Corbynisten bräuchten eine Herztransplantation. Trotzdem wurde der Linke zum Vorsitzenden von Labour. Wie das passieren konnte beschreibt Rosa Prince in ihrer inoffiziellen Corbyn-Biografie Comrade Corbyn: A very unlikely coup.
Drei Jahre nachdem Margaret Thatcher Premierministerin wurde und sich die Umrisse ihres „Thatcherismus“ abzeichneten, wurde der Roman A Very British Coup veröffentlicht. Geschrieben hatte ihn Chris Mullin. Der Labour-Politiker fantasiert darin über einen links außen stehenden Kandidaten, der Labour-Vorsitzender und später sogar Premierminister wird. Labour hatte schon immer einen „extremeren“ linken Flügel, dass dieser einmal das Ruder übernimmt, konnte man sich lange Zeit aber nur fiktiv vorstellen.
2015 wurde dann aber nicht zum ersten Mal in der Geschichte etwas Wirklichkeit, was vorher nur in der Fantasie möglich war. Ein 66-jähriger Linker, der die Hälfte seiner parlamentarischen Laufbahn im Kampf mit den Tories und die andere Hälfte im Kampf gegen seine eigene Partei verbracht hatte, übernahm das Zepter der Labour Party. Dieses Ereignis brachte Rosa Princes aktuelles Buch Comrade Corbyn: A very unlikely coup - how Jeremy Corbyn stormed to the Labour leadership hervor.
Fehlende Puzzleteile
Der Titel, im Deutschen etwa Kamerad Corbyn: Ein höchst unwarscheinlicher Coup - wie Jeremy Corbyn an die Spitze von Labour stürmte, bezieht sich sowohl auf die besonders linke Politik des neuen Anführers als auch auf Mullins fiktionales Werk. Corbyns Aufstieg zur Macht war unwahrscheinlich, in gewisser Hinsicht sogar noch sonderbarer als Fiktion.
Geschichten kann man auf unterschiedliche Arten und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Comrade Corbyn ist keine autorisierte Biographie des Labour-Vorsitzenden. Deshalb vermittelt das Buch den Eindruck, als würde ein Fremder von außen durchs Fenster gucken. Kein Bericht aus erster Hand von jemandem, der selbst mitten im Raum steht. Die Außenstehende sieht Dinge, kann aber nicht alles hören und verbindet daher die Punkte, indem sie ihre eigenen Vermutungen darüber anstellt, was geredet wird.
Die Schwächen des Buches liegen daher in den Seiten, auf denen Corbyns Privatleben erzählt wird. Es beinhaltet keine direkten Zitate des Politikers selbst. Und wer wäre besser geeignet, über sein Leben zu erzählen? Über jemanden, der sich nicht öffnet, kann man keine Biographie schreiben. Aus dem gleichen Grund aus dem man nicht erklären kann, wie ein Auto funktioniert, wenn man keinen Blick unter die Motorhaube werfen darf. Ohne direkte Kommentare von Corbyn oder Anekdoten von John McDonnell (Schatten-Schatzkanzler und Corbyns bester Freund in der Politik) fehlen ganz offensichtlich große Teile des Puzzles.
Was den biographischen Kapiteln fehlt, machen die Teile über Corbyns Politik wieder wett. Das Kapitel über Irland ist besonders faszinierend. Für Corbyn ist der einzige Weg der Vermittlung, sich mit beiden Seiten eines Konflikts zu beschäftigen. So machte er beispielsweise gemeinsame Sache mit kontroversen Figuren, oft zur Empörung anderer Parlamentsmitglieder und der Presse. Prince nimmt sich die Zeit zu erklären, warum dieser Ansatz ihn in Schwierigkeiten bringt, stellt aber fest, dass Corbyn getan hat, was er getan hat, weil er es für „das Richtige“ hielt. Die Autorin tut gut daran, eine ausgewogene Darstellung zu liefern und überlässt es dem Leser, seine eigene Meinung bilden.
Richtig fesselnd wird das Buch in den Kapiteln über den Wettstreit um den Labour-Vorsitz. Es zieht die Erfahrungsberichte von Menschen heran, die direkt am Wettstreit beteiligt waren und bietet einen packenden Bericht über die Ereignisse. Allerdings greift das Buch zu oft auf Ansichten aus den Kampagnen von Corbyns Rivalen zurück: Andy Burnham, Yvette Cooper und Liz Kendall. Statt die Geschichte aus einem rein links-außen positionierten Blickwinkel zu erzählen, liegt der Schwerpunkt eher darauf, wie der Favorit Burnham die Wahl aus seinen Fingern gleiten ließ.
Der Teil über den Führungsanspruch ist voller interessanter Einsichten in die Umstände, die das Ergebnis hervorbrachten. Er erzählt auch von einer Veränderung in der Wahlordnung der Labour-Partei, die eine Schmälerung des Einflusses der Gewerkschaften zum Ziel hatte. Dieses Vorgehen sollte ironischerweise den Anhängern von Tony Blair nützen – denen am rechten Rand der Partei – doch ebnete schließlich den Weg für den linken Rand.
Entscheidende Fehlurteile des Spitzenreiters Burnham spielten sicherlich eine Rolle, doch schlussendlich gewann Corbyn, weil er sich so klar von seinen New Labour-Rivalen absetzte. Im Buch wird erklärt: „Viele fanden [Corbyns] fast entspannte Art erfrischend in einer Zeit, in der die meisten Politiker jedes Wort so sorgfältig abwägen, dass sie oft den Blick auf ihre Überzeugungen verlieren.“ Schließlich war Corbyn der einzige Kandidat mit einer inspirierenden Kampagne.
Selbst wenn sich ein kleines Fenster für einen linken Kandidaten geöffnet hat, war Corbyn der unwahrscheinlichste von allen, um durchzuklettern. Anders als seine Altersgenossen Ken Livingstone und McDonnell selbst, hatte Corbyn niemals wirklich Führungsambitionen angedeutet. Er hatte noch nicht einmal auf eine Abgeordnetenposition im Parlament spekuliert, geschweige denn auf den Parteivorsitz. Es ist auch fair zu sagen, dass Corbyn das natürliche Charisma seines Mentors Tony Benn fehlt. Mehr als alles andere scheint der Vertreter des Wahlkreises Nord-Islington im britischen Unterhaus zur rechten Zeit am rechten Platz gewesen zu sein. Dadurch wird sein Erdrutschsieg – Corbyn erhielt 59,5% der Stimmen in einer Wahl mit vier Kandidaten - noch unglaublicher.
Das Ende des Buches ist in mehrfacher Hinsicht erst der Anfang. Es wird sicherlich noch viel Erklärungsbedarf darüber geben, wie die Labour-Partei unter einem Vorsitzenden aus dem stark linken Flügel zurechtkommt, der zwar eine große Anhängerschaft auf der Straße aufgebaut haben mag, aber nur begrenzte Unterstützung auf den Bänken des Unterhauses findet.
Nicht viele glauben, dass Corbyn das Zeug zum Premierminister hat, womit Mullins Roman wirklich prophetischen Charakter annehmen würde. Corbyn in der Downing Street ist aber ziemlich unwahrscheinlich, obwohl der Politiker auf seinem Weg zur Macht bereits eine ganze Reihe ‚unwahrscheinlicher‘ Hürden genommen hat. Nach der Lektüre dieses Buches kann man diesem Wort nicht mehr viel Bedeutung zuweisen.
Eher als eine Biographie ist es die Geschichte – um den Titel des Buches zu zitieren – „Wie Jeremy Corbyn an die Spitze von Labour stürmte“. Der Überraschungssieg hat viele Fragen aufgeworfen. Und das Buch versucht, als „black box“ Antworten zu geben. Es erklärt, warum Corbyn erfolgreich war und warum die anderen Kandidaten so spektakulär abstürzten. Gleichzeitig umreißt es die Umstände, die ermöglichten, was so lange als utopisch galt. Dadurch ist das Buch eine interessante Lektüre, nicht nur für Corbynisten sondern auch für jeden, der an der Labour-Partei oder der britischen Politik im Allgemeinen interessiert ist.
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Comrade Corbyn: A very unlikely coup von Rosa Prince ist jetzt in Großbritannien erhältlich.
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Ich bin ein Londoner. Dieser Artikel stammt von einem cafébabel-Autoren aus London.
Translated from Comrade Corbyn: Just how unlikely was Jeremy's "coup"?