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Istanbul, ein türkisches Dublin - Ist der Flüchtlings-Deal zwischen EU und Türkei noch am Leben?

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9 Jahre nach Beginn des Syrien-Kriegs geht die türkische Gastfreundschaft gegenüber Geflüchteten aus dem Nachbarland zur Neige. Während syrische Kinder mit der türkischen Sprache aufwachsen, will die Regierung Millionen Menschen in einer “Sicherheits-Zone” ansiedeln.

Am Essen lassen sich die Lebensgewohnheiten eines Landes ablesen. Ein Spaziergang im Stadtviertel Fatih in Istanbul könnte den erstmaligen Besucher aber täuschen. Denn in den belebten Straßen, die zum Markt um eine der größten Moscheen der Stadt führen, finden sich viele syrische Restaurants. Die Lebensmittel- und Gewürzgeschäfte sind auf Arabisch beschriftet und auch die türkischen Sprechmelodien vermischen sich mit syrischem Vokabular.

Seit der Bürgerkrieg im Jahr 2011 begonnen hat, sind nach offiziellen Schätzungen mehr als 500.000 Syrer:innen in die Stadt Istanbul gekommen. Die meisten haben sich genau hier, in der europäischen Stadthälfte, im Altstadt-Bezirk Fatih niedergelassen, wo die Sprachbarrieren zwischen den Bevölkerungsgruppen immer größer werden. Die offensichtlichste Folge davon ist, dass sich das Aussehen der ganzen Gegend verändert. «Es ist nicht leicht, mit ihnen ins Gespräch zu kommen» - erzählt Mustafa Özbek von der NGO İnsani Yardım Vakfı - «sie sind sehr reserviert, mit der Presse zu sprechen und manchmal dauert es Tage, um Kontakt herzustellen». Der Grund dieser Zurückhaltung ist einfach erklärt: die Einwanderung hat in der Türkei angefangen zum Problem zu werden, sowohl für die Zivilgesellschaft als auch und insbesondere für die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan. Für ihn hat sich die Debatte über die Migration bei der Kommunalwahl 2019 in Istanbul nicht nur ein-, sondern zweimal als hochgiftig erwiesen (die Wahl wurde aufgrund von vermutlichen Unregelmäßigkeiten wiederholt). Zum Schlüsselthema öffentlicher Debatten wurde die Migrationsfrage ab dem 18. März 2016, als die Europäische Union und die Türkei ein Abkommen zur Begrenzung der Migration unterzeichneten.

Das EU-Türkei Abkommen: von der Lösung zum Problem?

Im Wesentlichen hat das Abkommen vier große Punkte. An erster Stelle will man die Bewegungen syrischer Migrant:innen geordneter kontrollieren. Auf Basis eines 1:1-Mechanismus soll für jede Person, die von den griechischen Inseln Lesbos und Kos in die Türkei zurück gesiedelt wird, eine andere Person den umgekehrten Weg Richtung EU nehmen. Dadurch soll zweitens ein Abschreckungseffekt Menschen von der Flucht übers Mittelmeer abhalten. Drittens soll Transitländern, wie der Türkei, finanziell geholfen werden, damit Programme zur Integration der syrischen Bürger:innen entwickelt werden. Viertens und letztens wird im Abkommen die Visafreiheit für türkische Bürger:innen bei Reisen innerhalb der EU angestrebt. Die Umsetzung dieses vierten Ziels hat allerdings bald nach Unterzeichnung des Abkommens eine Vollbremsung erlitten.

«Ich bin hinsichtlich aller vier Punkte skeptisch», kommentiert Deniz Sert, Jean-Monnet-Professorin für Migration und europäische Mobilität an der Özyeğin Üniversitesi Istanbul. «Betrachten wir das Ziel des Abschreckungseffekts, sehen wir, dass die Migrationsströme 2016 bereits abgenommen hatten. Einige meinen, dank dem Abkommen seien weniger Migranten im Meer ertrunken. Allerdings wissen wir durch die Forschungsaktivitäten, dass die Sterberate in Wirklichkeit gestiegen ist. Was nun die Idee der Umverteilung von Menschen betrifft, so wissen wir, dass viele europäische Länder gar keine weiteren Flüchtlinge mehr aufnehmen. Einige Mitgliedstaaten, wie zum Beispiel Ungarn, arbeiten hier nicht mit. Die Zahl der Umsiedlungen ist allgemein sehr niedrig. Nach offiziellen Schätzungen beherbergt die Türkei 3,6 Millionen Menschen aus Syrien. Dabei liegt die Zahl umgesiedelter Migranten:innen unter 20.000. Zuletzt bin ich gegenüber den Finanzierungen kritisch. Lange Zeit wurden lediglich humanitäre Hilfsprojekte gefördert. Wir gehen nun aber ins neunte Jahr seit dem Eintreffen der ersten Kriegsgeflüchteten aus Syrien. Der Ansatz funktioniert nicht mehr, weil er nicht tragbar ist. Ohne diese Frage instrumentalisieren zu wollen: die Finanzierungen haben eine Form von Industrie aus der Vewaltung der Geflüchteten gemacht. Viele der Gelder verschwinden im Laufe der verschiedenen Transaktionen».

Im Zusammenhang mit den Finanzierungen spielt die türkische Regierung eine wesentliche Rolle. Ankara klagt über ausbleibende wirtschaftliche Unterstützung von Seiten der EU und hat in der Folge an der Nützlichkeit des ganzen Abkommens zu zweifeln begonnen. Den Einschätzungen einiger von Cafebabel interviewten Expert:innen nach (die anonym bleiben wollen), sei Erdoğan von Anfang an gegen das Abkommen mit Brüssel gewesen, so dass der endgültige Vertrag nur vom damaligen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoğlu unterschrieben wurde, der danach noch zwei Monate im Amt blieb.

Was tun?

Derzeit werden nur wenige Maßnahmen umgesetzt und die sind konfus. Die Türkei hat inzwischen die südliche Grenze zu Syrien geschlossen und blockiert die Ausreise übers Mittelmeer nach Griechenland. 3,6 Millionen geflüchtete Menschen zu verwalten, ist keine leichte Aufgabe. Vor allem, da sich sich mehr als 500.000 Menschen in derselben Stadt befinden: Istanbul hat nach inoffiziellen Schätzungen bereits 18 Millionen Einwohner:innen.

Im Juli 2019 hat die türkische Regierung ein Programm zur Binnen-Umsiedlung innerhalb der Türkei begonnen, für in Aufnahmezentren registrierte Geflüchtete aus Syrien. «Vor der Kommunalwahl hat die Regierung Möglichkeiten gesucht, um die Flüchtlinge dorthin zurückzuschieben, wo sie ins Land gekommen sind», erklärt İzzet Şahin, Vorstandsmitglied für humanitäre Diplomatie bei der NGO İnsani Yardım Vakfı. «Aber diese Menschen befinden sich aus wirtschaftlichen und beruflichen Gründen in Istanbul. Die Folgen dieser Entscheidung des Innenministeriums waren negativ: die Migrant:innen wurden gezwungen zu übersiedeln. Nur sehr wenige sind zurück nach Syrien heimgekehrt, die Mehrheit ist einfach in anderen Städten gelandet.» Jedenfalls ist die Zahl der Betroffenen klein, wenn man sie mit der Gesamtzahl der syrischen Einwohner:innen in Fatih vergleicht, einem Stadtviertel, das man ein türkisches Dublin nennen könnte. Es gibt noch andere Probleme, fährt İzzet Şahin fort: «Die jüngeren Generationen sprechen inzwischen Türkisch. Für sie wäre es schwierig, zurück nach Syrien zu kehren und Arabisch zu lernen».

Istanbul (cc) Matteo Garagavoglia
Istanbul © Matteo Garavoglia

Anfangs dachten die Menschen in der Türkei, die Leute aus Syrien würden nur wenige Jahre bleiben. Diesen Eindruck vermittelte unter anderem die Gewährung von befristeten Aufenthaltstiteln durch den Staat. Während die Jahre vergingen, wurde ihre Sesshaftigkeit zum Problem. «Hier ist das Phänomen der Migration nie in Begriffen von 'Krise' dargestellt worden», kommentiert Deniz Sert. «Der Diskurs ist ganz anders als in Europa. Zu Beginn sind diese Personen wie Gäste betrachtet worden. Mit der Zeit allerdings hat die Geduld der Türk:innen abgenommen. Heute beginnen wir Gefühle wahrzunehmen, die sich gegen Migrant:innen und Geflüchtete richten».

Eine kritische Sicherheitszone in Syrien

Neben den 3,6 Millionen Syrer:innen, wird geschätzt, dass die Türkei tausende Menschen diverser weiterer Herkünfte beheimatet. Bei geschlossenen Grenzen setzt die türkische Regierung auf eine einzige Lösung: die Schaffung einer safe zone ("Sicherheitszone") zwischen Syrien und der Türkei, in die bis zu zwei Millionen Flüchtlinge umgesiedelt werden sollen.

Das Projekt sieht den Bau von Einrichtungen und von ganzen neuen Städten entlang eines kaum 30 Kilometer breiten Streifens vor. Es könnte aber über 20 Milliarden Euro kosten, betonen Experten im Interview mit Cafébabel. Aus diesem Grund wäre es Erdoğan Recht, mit seinen ausländischen Partnern Verhandlungen aufzunehmen, und finanzielle Hilfe zu fordern. So eine Sicherheitszone würde auch die Kurdenmiliz YPG - die von Ankara als "Terrorgruppe" eingestuft wird - von der türkischen Grenze entfernen, wie die im Oktober 2019 im Nordosten Syriens angefangene Militäroperation zeigt. «Wäre ich ein europäischer Leader, ich würde versuchen mehr Einfluss auf dieses Gebiet auszuüben, denn gegenwärtig weiß niemand - weder die Akademiker, noch die Journalisten - wirklich, was dort gerade los ist», so Deniz Sert.


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Translated from A Istanbul l’accordo sui migranti tra Ue-Turchia sta diventando un problema