Grenzlose Menschlichkeit im Roya-Tal
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Barbara BraunIn Zeiten der Wiedereinführung von Grenzkontrollen, der Militarisierung von Grenzregionen und so mancher fragwürdiger Polizeimethoden, müssen die Bewohner des Roya-Tals mitansehen, wie ihre Region zum Politlabor für Migrationsfragen wird. Zahlreiche Migranten versuchen dort, oft unter Einsatz ihres Lebens, über die Grenze nach Frankreich zu gelangen. Das Festival "Passeurs d'humanité" (Schmuggler der Menschlichkeit) versucht die Debatte rund um Migrationsfragen neu aufzubringen.
Auf dem Tende-Pass, dem mit 1870 Metern höchstgelegenen Punkt des Roya-Tals, entrollen mehrere Dutzend Personen lange Banner. "Unsere Brüderlichkeit kennt keine Grenzen", steht auf einem geschrieben. Die Botschaft gilt den Aktivisten "Identitärengeneration", die ein Jahr zuvor mit der Besetzung des Echelle-Passes im Département Hautes-Alpes eine Antimigrantenaktion gestartet hatten. Die "Solidären" vertreten den Gegenstandpunkt zur rechtsextremen Gruppe und treffen sich das zweite Jahr in Folge zum Festival "Passeurs d'humanité" (Schmuggler der Menschlichkeit). Das Event wirbt für Solidarität mit den MigrantInnen, die durchs Roya-Tal ziehen.
Unter den Festivalgästen trifft man auf Talbewohner und Aktivisten aus der ganzen Region. Darunter auch Jules, freiwilliger Kellner am Festival und Mitglied des Vereins "Défends ta Roya" (Verteidige dein Roya), dessen Vorsitzender Cédric Herrou, Landwirt von Beruf, eine wahre Symbolfigur der Flüchtlingshilfe geworden ist. "Ich bin hier um ihre Blockierung an den Grenzen anzuprangern. Diskriminierung steht hier leider an der Tagesordnung", kritisiert Jules, der sich selbst als antifaschistischen Aktivisten definiert. Das Roya-Tal ist seit 1860 Teil Frankreichs und ein Ort des Austausches zwischen den französischen und italienischen Dörfern der Region. Täglich passieren tausende Bewohner die Grenze um sich an ihr Arbeitsplatz zu begeben. Dutzende MigrantInnen - für die einen unsichtbar, für die anderen bedrohlich - verirren sich auf den Bergstrassen und -wegen. Aus dieser Beobachtung heraus rief Jacques Perreux, Präsident des Vereins "FreudInnen Royas" das Festival "Passeurs d'humanité" ins Leben, um zur Diskussionskultur rund um Migrationsfragen beizutragen. "Wir wollten unsere Hilfe schon in der Zeit der ersten Spannungen (Juni 2015, Anm. der Red.) rund um die Flüchtlingsaufnahme anbieten." Die solidarische Aufnahme von Menschen - ein Ziel, das er anhand der Thematik der Gastfreundschaft, der Grenzen und neuer Lebens- und Erwerbsformen anpackt. "Die Menschheit hat sich immer schon durch Migration und Solidarität weiterentwickelt", vertraut uns Jacques an. Er sitzt auch im Gemeinderat eines Pariser Vorortes.
Illegale Menschen schaffen
"Grenzen gehen mit dem Wiederaufbau des kapitalistischen Arbeitsmarktes, der neue Sklaven braucht, einher." 19. Juli, 10 Uhr. Der italienische Soziolog Luca Giliberti gibt bei einer Konferenz in Saorge, einem kleinen Ort im oberen Roya-Tal, den Ton an. Seiner Ansicht nach entspricht die Migrationspolitik der europäischen Länder mehr und mehr einem Schaffungsverfahren von illegalen Menschen. Eine direkte Konsequenz der Wiedereinführung der Grenzkontrollen innerhalb der EU, die seit Juni 2015 in Kraft getreten ist. Diese Kontrollen galten ursprünglich der Abwendung einer Terrorbedrohung im Umfeld der COP21, wurden allerdings nach der Verhängung des Ausnahmezustandes infolge der Attentate im November 2015 verschärft. Allein innerhalb der letzten 12 Monate hat die französische Polizei laut offizieller Zahlen des Innenministeriums rund 18 000 Personen an der Grenze in Vintimille daran gehindert einzureisen.
Luca Gilberti fügt hinzu: "Wir sind in einer Versuchswerkstatt. Das Vorgehen betrifft heute die Migranten, aber morgen kann es die Arbeiterklasse treffen, und danach die lokale Bevölkerung." Dieses Konzept wird auch von Emilie Pesselier aufgegriffen, die Projektleiterin der ANAFE ("Association nationale d’assistance aux frontières pour les étrangers", der Nationalverband für die Unterstützung von Fremden an den Aussengrenzen, Anm. der Red.) Sie prangert die "illegalen Vorgehensweisen der französischen Behörden" gegenüber Migranten an, die versuchen über die Grenze zu gelangen. Alle Grenzregionen können als Kleinwerkstätte für Gesellschaftsfragen betrachtet werden. "Der rechtliche Rahmen ist oft unklar; eine Gelegenheit neue Dinge auszuprobieren, die danach im ganzen Land angewandt werden", erklärt die junge Frau. Diskriminierung, illegale Abschiebungen von Minderjährigen, keine Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen, Jagd auf MigrantInnen in den Zügen... die Liste ist lang und wird detalliert im Bericht "Persona non grata" der Hilfsorganisation aufgearbeitet (http://www.anafe.org/IMG/pdf/anafe_-resume-_persona_non_grata.pdf).
Diese Polizeimethoden wurden im Januar 2018 vom Verwaltungsgericht in Nizza, das gleichzeitig zum Schutz von Minderjährigen aufrief, verurteilt. Aber laut Julie, eine Zugbegleiterin in der Grenzregion, hat sich die Lage bezuglich Diskriminierung seither kaum verbessert. "Kontrollen gibt es nur in Fahrtrichtung Frankreich. Man muss bedenken, dass wir nur 5 Minuten an der Grenze halten und dass es eine Vielzahl an Fahrzeugen zu kontrollieren gibt. Die Polizei orientiert sich dabei nur an der äußeren Erscheinung der Fahrgäste. Die wesentlichen Kriterien sind Hautfarbe und leichtes Reisegepäck."
Ein Strichzug zur Volljährigkeit
2017 wurden laut Angaben der ANAFE im Département Alpes-Maritime 48 362 Personen zur Überprüfung ihrer Personalien vorübergehend festgenommen. Der Verein trifft damit die illegale Freiheitsberaubung von MigrantInnen vor ihrer Abschiebung nach Italien im Kern. Allein im letzten Monat wurden 13 Personenbeschreibungen an den Staatsanwalt in Nizza übergeben. Emilie Pesselier bedauert: "Jeden Abend werden Menschen am Grenzposten in Menton für die ganze Nacht in den Algecos eingesperrt ( ein kleines Lagergebäude, Anm. der Red.)." Da diese provisorischen Kontainerbauten keinen legalen Status haben, werden sie laut ANAFE als Transitzonen für Migranten benutzt. "Diese Algecos sind 15m2 grosse Kontainer ohne Innenausstattung in denen bis zu einem Dutzend Personen gleichzeitig festgehalten werden können. Ohne Nahrung und oft länger als jene 4 Stunden Freiheitsberaubung, die vom "Conseil d'Etat" (das höchste französische Verwaltungsgericht) als zumutbar eingestuft werden", erklärt die Projektleiterin.
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« Persona non grata » bezeichnet eine weitere Form der Missachtung gegenüber der Rechte von minderjährigen Einreisenden: die Fälschung von Geburtsdaten durch die Polizeibehörde mit dem Ziel sie als Volljährige nach Italien abzuschieben. Die Europaabgeordnete Michèle Rivasi hat diese Situation nach einem Besuch in Menton im April bestätigt. "Ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Die jungen Menschen geben an, minderjährig zu sein, und sind plötzlich alle am 1. Januar 2000 geboren, obwohl sie darauf bestehen erst 14 oder 15 Jahre alt zu sein", vertraut sie der regionalen Tagezeitung La Provence an. (https://www.laprovence.com/article/faits-divers-justice/5377777/frontiere-franco-italienne-la-paf-viole-t-elle-les-droits-des-migrants.html). Eine Tatsache, die der Verein ANAFE nach zwei Jahren Grenzbeobachtung noch weiter ausführt: "Wir haben Fälle beobachtet wo Geburtsdaten auf Einreiseverweigerungen verändert wurden. Die Polizisten haben begonnen Migranten wie Volljährige aus dem Land zu verweisen, obwohl sie ihre Minderjährigkeit festgestellt hatten. Bei vielen aus dem Jahrgang 2001 und 2002 konnte man erkennen, dass die 1 oder die 2 in eine 0 verwandelt wurden so, dass man 2000 liest", erzählt Emilie, die uns später noch ein Photo von einem gefälschten Dokument zukommen hat lassen. Ihr zufolge wollte das Innenministerium keinen Kommentar dazu abgeben.
Teile und herrsche
Die Sonne brennt heiß über dem Bergdorf Saorge. Es ist früher Nachmittag, die Stunde der Lösungen. Wie kann Gastfreundschaft die Migrationsfrage beantworten? Cédric Herrou ergreift das Wort. Er beschuldigt Eric Ciotti, den ehemaligen Präsidenten des Départements Alpes-Maritime, "die Migration für Wahlkampfzwecke zu benutzen" und fügt noch hinzu, dass er letzteren über seinen Anwalt wegen Rückführung von alleinreisenden Minderjährigen und somit Verhinderung von Asylanträgen angeklagt hat. Für den Landwirt bedarf es einer anderen Politik im Umgang mit MigrantInnen. Damien Carême, sein Konferenznachbar und grüner Europaabgeordneter untermauert diese Äußerungen. Er etabliert einen kausalen Zusammenhang zwischen nationaler Politik und öffentlicher Meinung über Flüchtlinge: "Wir setzen auf die Individualisierung der Gesellschaft. Teile und herrsche. Und es funktionniert." Weiter meint er: "Die Menschen, die an unsere Grenzen kommen sind aus ihrer Heimat geflohen, weil dort Kriege wüten die unserem Zweck dienen, unserer Gier nach Land und Erdöl. Aber wir haben uns nie um die Bevölkerung in diesen Ländern oder um ihre Lebensbedingungen gekümmert. Wir haben sie den diktatorischen Systeme überlassen und haben sogar mit diesen Diktaturen zusammen gearbeitet. Das gesamte politische System muss verändert werden."
Noch ist die Umsetzung in konkrete politische Aktionen schwer vorstellbar. Zu vielschichtig sind die Herausforderungen rund um die Grenzen, wie zum Beispiel die Verteilung der MigrantInnen. Cédric Herrou beklagt diese Lage und beschuldigt den Staat, die Politiker des Tals und die Bürgermeister der Region die "die Bewohner der Region von oben herab betrachten und im Stich lassen." Der Landwirt hat AsylantragsstellerInnen bei sich aufgenommen und ist heute von den politischen Vertretern enttäuscht. Seit ein paar Wochen ist er mit der Abbé-Pierre-Bewegung in Kontakt, um die 100% landwirtschaftliche Gemeinschaft "Emmaüs Roya" in Breil zu gründen. "Wir suchen nach Lösungen, damit die Menschen einen offiziellen Status durch Arbeit bekommen und finanziell autonom sein können. Das haben wir in der Emmaüs-Bewegung gefunden", erklärt er. Diese Initiative wird nicht von allen wohlwollend betrachtet, auch nicht von André Ipert, dem Bürgermeister von Breil, der eigentlich dem linken politischen Lager angehört. "Es gibt ein negatives Image ab. Der Staat erfüllt seine Aufgaben nicht, aber in Zeiten der Spannungen ist die Einheit in unserem Dorf eine Priorität", vertraut er der Tageszeitung Nice-Matin an; er bedauert sogar einen "Anziehungseffekt" für MigrantInnen. Diese Äusserungen haben viele Bewohner des Roya-Tals überrascht. Man muss sie allerdings in den aktuellen Wahlkampfszusammenhang stellen : im März 2020 finden Gemeinderatswahlen statt.
Über den Tende-Pass wandern die "Solidären" zurück ins Dorf zur Abschlussveranstaltung. Mouss und Hakim, die beiden Brüder der Band Zebda, starten ihr Konzert mit den Worten. "Motiviert, motiviert, wir müssen motiviert bleiben". Das Publikum kennt den Song auswendig. Nach vier Tagen von Austausch und Feiern schwebt der Duft von Brüderlichkeit im Roya-Tal.
*Der Vorname wurde geändert.
Titelbild: © Safouane Abdessalem
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Translated from Vallée de la Roya : la fraternité en danger