Gerechtigkeit für die Opfer Tschetscheniens
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nora s. stampflDiesen Sommer wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die ersten Fälle von Zwangsverschleppung in Tschetschenien entscheiden.
“Töte ihn, verdammt, das ist ein Befehl. Bring ihn hier her, erschieße ihn.“ Fatima Bazorkina hörte diesen Befehl eines russischen Generals, als sie gerade die Abendnachrichten schaute. Der General befahl die Exekution eines jungen Mannes, der soeben vom russischen Militär verhaftet wurde. Fatima erkannte in dem jungen Mann ihren Sohn. Seit sie ihn an diesem Tag im Fernsehen sah, hat sie nicht mehr von ihm gehört.
Staatsanwälte verweigern die Untersuchung
Fatimas Fall ist nicht der einzige. Gravierende Missachtungen der Menschenrechte gehören in Tschetschenien seit dem Beginn des so genannten Zweiten Tschetschenien-Krieges im Jahr 1999 zum Alltag.
Nach einer Serie von Explosionen in Russland und dem Einfall tschetschenischer Separatisten in Dagestan, einer Nachbarrepublik von Tschetschenien im Jahr 1999, starteten russische Truppen einen Feldzug, um die Kontrolle über das tschetschenische Territorium wieder zu erlangen. Seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens, das 1996 das Ende des ersten Tschetschenien-Krieges markierte, genoss Tschetschenien erhebliche Freiheit.
Von Beginn an wurde der Feldzug von Menschenrechtsverletzungen überschattet. Ein besonderes Problem sind dabei Zwangsverschleppungen. Bürger werden regelmäßig mitten in der Nacht von maskierten, bewaffneten Männern in Uniform aus ihren Häusern gezogen. Manchmal tauchen die Gefangenen in Internierungslagern wieder auf, andere werden in Massengräbern gefunden und viele verschwinden spurlos.
Die in Russland sehr angesehene Internationalen Gesellschaft für Geschichtsaufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge "Memorial", geht davon aus, dass seit 1999 zwischen drei- und viertausend Menschen verschwunden sind. Human Rights Watch schrieb, dass diese systematischen Verschleppungen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind.
Die große Mehrheit der Verschleppungen wurden im Auftrag der russischen Regierung durchgeführt. Die Staatsanwälte vor Ort und auf Bundesebene weigerten sich, diese Fälle ordnungsgemäß zu untersuchen. In Fatimas Fall ergab sich früh, dass es sich bei dem General, der den Befehl zur Exekution gab, um General Baranov handelte. Es wurden jedoch keine bedeutenden Untersuchungen eingeleitet. Dies geschah erst, als die russischen Behörden erfuhren, dass Fatima einen Antrag beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECtHR) eingereicht hatte.
Langwierige Verfahren
Für die meisten Opfer besteht die einzige Hoffnung auf Gerechtigkeit in der Anrufung des ECtHR. Seit 1998 ist dieser Gerichtshof auch für Entscheidungen zuständig, die die Menschenrechtsverletzungen in Russland betreffen. Damals ratifizierte die Duma, das Unterhaus des russischen Parlaments, die Europäische Menschenrechtskonvention (ECHR). Von den Tausenden von Fällen, die seitdem aus Russland an den ECtHR geschickt wurden – mehr als von jedem anderen Mitgliedsland der Konvention – betreffen nur 200 schwerwiegende Menschenrechtverletzungen in Tschetschenien.
Dafür gibt es viele Gründe. Einen Antrag an den Gerichtshof zu stellen, ist gefährlich. Vielen Antragstellern werden bedroht und schikaniert. Einige Antragsteller wurden sogar entführt und verschwanden auf die gleiche Weise wie ihre Verwandten. Die Menschen Tschetscheniens wissen nur wenig über den Gerichtshof und seine Vorteile. Für die, die sich dennoch für einen Antrag entscheiden, kann der mit der Einreichung einer Klage verbundene langwierige Prozess entmutigend sein. Der Gerichtshof benötigt oft vier bis sieben Jahre, um einen Fall zu entscheiden.
Respekt vor dem Gerichtshof
Bisher hat der Gerichtshof nur in sechs Fällen aus Tschetschenien Urteile gefällt. Diese Fälle beschränkten sich auf Folter, den unnötigen Einsatz von Gewalt und die Tötung von Zivilpersonen während Militäroperationen. In allen Fällen wurden die russischen Behörden für den Tod der Verwandten der Antragsteller verantwortlich gemacht und zur Zahlung von Entschädigungen verurteilt.
Der Europäische Gerichtshof kann den Opfern mehr als Entschädigungen zu bieten. Wenn der Gerichtshof entscheidet, dass eine Regierung die Menschenrechtskonvention verletzt hat, dann muss diese Regierung Maßnahmen ergreifen, um zu verhindern, dass solche Verletzungen wiederholt auftreten. Das Ministerkommitee des Europarats, das aus Vertretern aller Mitgliedstaaten besteht, überwacht und entwickelt diese Maßnahmen.
Da Russland bereits verurteilt wurde, muss es den schrecklichen Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien ein Ende setzen. Jeder Mitgliedstaat des Europarats muss sicherstellen, dass dies wirkungsvoll und angemessen geschieht. Die Mitgliedstaaten sollten diese Diskussion jedoch nicht auf das Ministerkomitee beschränken, sondern diese Angelegenheit in bi- und multilateralen Treffen vorbringen.
Russland nimmt den Europäischen Gerichtshof und den Europarat ernst. Die Stichting Russian Justice Initiative beobachtete, dass die russischen Behörden einen Fall wirksamer untersuchen, wenn sie davon erfahren, dass ein Opfer einen Antrag an den Gerichtshof gestellt hat. Einhellige Forderungen der EU-Mitgliedstaaten auf Basis der getroffenen Entscheidungen des ECtHR werden daher von den russischen Behörden ernst genommen und können Einfluss auf die Menschenrechtssituation in Tschetschenien ausüben.
Fatima hat während der letzten sechs Jahre Hunderte von Briefen an die russischen Behörden geschrieben. Sie bereiste ganz Tschetschenien und suchte auf schmerzliche Weise nach ihrem Sohn unter Hunderten von anderen vermissten Männern in Massengräbern. Sie hat immer noch keine Information darüber, was mit ihrem Sohn passierte, nachdem General Baranov seine Exekution befahl. Obwohl das Fernsehen General Baranov bei der Anordnung einer Massenexekution zeigte, erhielt er die Auszeichnung „Held von Russland“ und leitet nun alle Truppen in der Region – auch in Tschetschenien.
Diesen Sommer wird der Europäische Gerichtshof sein Urteil in Fatimas Fall gegen Russland fällen.
Translated from A European justice for Chechnya's victims