Gefangen in der Matrjoschka
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nora schreiberDie Apathie der Gesellschaft erhält Putins Macht. Nur die Oligarchie, die Verschwörung der Bojaren, kann die russische Hozpuppe aufbrechen.
Vor zwei Jahren versammelte Vladimir Putin 6000 Delegationen der 350 000 in Russland verzeichneten NRO. Putin behauptete vor dieser Zuhörerschaft, dass « es kontraproduktiv und gefährlich sei, wenn allein die Macht die Zivilgesellschaft begründen würde. Die Gesellschaft muss sich selbstständig entwickeln und dabei durch den Geist der Freiheit gestärkt werden. »
Der zynische Präsident hält die russische Zivilgesellschaft in seinen Händen - und er lenkt sie nach seinem Willen wie eine Ballerina des Bolschoi-Theaters. Um seine Konsolidierung als Chef einer ihm auf den Leib geschnittenen Demokratie zu verstehen, erfordert es eine psychosozialen Analyse der traumatischen Veränderungen der letzten Jahre.
Die Zivilgesellschaft war auf die schwindelerregenden Veränderungen, die mit der Entsowjetisierung begannen, nicht vorbereitet. Später kamen die kriminalisierende Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit, die Unsicherheit in den Städten, der Tschetschenienkonflikt und das fast schon sprichwörtliche Bündnis zwischen der Orthodoxen Kirche und der Macht Putins.
Entsowjetisierung und Wandel der Gesellschaftsstruktur
In der kommunistischen Gesellschaft war alles abgesichert. Der « homo sowjeticus » tendierte zum Konformismus. Seine Energie verwendete er nicht auf Unternehmungen, sondern flüchtete sich in ein Netzwerk von Kontakten, das Verwandte und enge Freunde mit einschloss. So bestand das weiter fort, was sich normalnaya zhin oder das normale Leben nannte - ein anzustrebendes Ziel, das trotz dem Strukturwandel, den Russland durchgemacht hat, noch im kollektiven Unterbewusstsein verankert zu sein scheint.
Jene Familiennetzwerke, die gegen den Staat ins Leben gerufen wurden, um aus eben diesem einen maximalen Vorteil zu ziehen (niemals um ihn zu torpedieren oder ihn in Frage zu stellen) verhinderten ein gemeinsames Gefühl von Solidarität (so paradox das in einem kommunistischen Regime auch klingen mag). Heute entstehen Solidaritätsnetzwerke aus dem Inneren der Zivilgesellschaft heraus, die versuchen, die gesamte Gesellschaft in den kollektiven Aufbau des zukünftigen Miteinanders mit einzubinden.
Politische und soziale Instabilität in der Übergangsphase
Zu diesem radikalen Wandel der sozioökonomischen Struktur muss noch ein weiterer Faktor hinzugefügt werden: die Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit. Der Prozess, der Jelzin zur Präsidentschaft gebracht hat, deutete ständig auf die sowjetische Vergangenheit, insbesondere auf die Massenverbrechen der (post-) stalinistischen Epoche, um bis zur Perestroika zu gelangen. Das löste einen gewissen kathartischen Effekt in der russischen Gesellschaft aus, die zum ersten Mal das wahre Ausmaß der kommunistischen Periode entdeckte.
Dies hat wiederum die Psychologie der russischen Gesellschaft berührt. Es gab ihr das schreckliche Gefühl entwurzelt zu sein, sprach die Problematik ihrer kollektiven Vergangenheit an und öffnete eine schmerzhafte Wunde im kollektiven und individuellen Selbstwertgefühl. Neben all diesen Prozessen verlor Russland auch seinen Großmachtstatus.
Wenn wir zu all diesen Faktoren auf der einen Seite die wachsende Unsicherheit in den Städten hinzufügen - denn nach dem Fall der Diktatur und der Restrukturierung des Staats entstanden optimale Bedingungen für die Verbreitung von Mafiagruppen - und auf der anderen Seite den Tschetschenienkonflikt, der zwischen den von der russischen Armee begangenen barbarischen Kriegsverbrechen und den terroristischen Attentaten tschetschenischer Separatisten schwankt, so erhalten wir einen Nährboden, der günstig ist für den Aufstieg und die Konsolidierung eines autoritären Politikers wie Putin.
Putin an der Macht - Alternativen?
Der Machtantritt Putins markierte die Rückkehr zu einer gewissen Stabilisierung, begünstigt durch eine bessere Wirtschaftssituation - konjunkturbedingt vielleicht, aber spürbar. Putin wiederum konnte in die verschiedenen Machtschichten der russischen Gesellschaft eindringen und diese kontrollieren - von den Sicherheitsstrukturen (Putin ging aus dem KGB hervor) bis zur Religion mit seinem strategischen Bündnis mit Alexis II. (das Oberhaupt der Orthodoxen Kirche). Die Kirche profitiert von einem momentanen spirituellen Vakuum, um in der Zivilgesellschaft an Einfluss zu gewinnen. Putins eiserne Kontrolle der Medien und der Fall Chodorkowsky, sein einziger ernsthafter politischer Gegner, inhaftiert wegen vermeintlicher Korruption, machen den Weg frei für seine Wiederwahl.
Wie Vladimir Gusinsky, Gründer des russischen Fernsehsenders NTV, anmerkte, « genießt Putin eindeutig die Angst, die er einflößt. Und je größer die Angst, umso stärker die Macht. » Er merkt wiederum an, dass die pseudo-diktatorische Spirale, in der Putin gefangen ist, dem Präsidenten Angst macht: « Aber Putin hat auch Angst. Er hat Angst vor den Menschen, die sich wegen des Blutbads in Tschetschenien, der Ausschaltung der freien Medien an ihn erinnern werden (...). Je stärker die Angst, umso größer die Versuchung, sich in einen Diktator zu verwandeln, der entweder sein Leben lang an der Macht bleibt oder einen Nachfolger ausbildet, der mit eiserner Hand regiert. »
Es ist schwierig, aus dem psychosozialen Trauma, unter dem die russische Gesellschaft leidet, eine Alternative zum politischen Wandel hervorgehen zu lassen. Die Rebellion der Oligarchen zeichnet sich als einzige Alternative ab. Die Perspektive eines Regimes, das mit jedem Mal autoritärer ist, und die progressive Entfernung von der EU und der UNO können beschleunigende Faktoren einer Mobilisierung der russischen Oligarchen sein. Nur wenn diese ihre Angst vor Putin überwinden und sich strategisch verbünden, können sie an der Erneuerung teilnehmen und den Rest der Zivilgesellschaft mit einbinden. Putin weiß und befürchtet das, und deswegen hat er die Gefangennahme seines Hauptgegners, des Wirtschaftsfürsten Chodorkowsky, veranlasst.
Translated from La sociedad rusa, todavía dentro de la matrioshka