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"Föderale Wirtschaftsregierungen funktionieren"

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Durch Straffreiheit für jene Länder, die die Lissabon-Ziele nicht umsetzen, ist die europäische Reform-Agenda zum Scheitern verurteilt, meint der Wirtschaftswissenschaftler Henrik Enderlein im café babel-Interview.

Henrik Enderlein ist Junior-Professor an der Fakultät Wirtschaftswissenschaften der Freien Universität und des John F. Kennedy-Instituts für Nordamerikastudien in Berlin. Einer seiner Forschungsschwerpunkte ist die Wirtschaftspolitik der EU im Vergleich zu den USA.

Warum sind sie überzeugt, dass die Ziele der Lissabon-Strategie nicht erreicht werden?

Der wichtigste Grund ist, dass die Lissabon-Strategie weder präzise Ziele noch genau definierte Zwischenschritte beinhaltet. Lissabon ist eine so genannte offene Methode, im Ökonomen-Slang als ‚benchmark approach’ bezeichnet. Sie kann die Mitgliedsstaaten ermuntern, notwendige Strukturreformen ihrer Volkswirtschaften vorzunehmen, aber nicht dazu zwingen. Dieser Ansatz entspricht dem Verfahren der „negativen Koordinierung“, obwohl es sich um einen Sachzusammenhang „positiver Koordinierung“ handelt. Lassen Sie mich diese Terminologie kurz erklären: Negative Koordination beschränkt sich darauf, Grenzwerte zu setzen oder Minimalstandards einzuführen. Positive Koordination formuliert hingegen klare und griffige Ziele, denen alle relevanten Politiker zuvor zugestimmt haben müssen. Natürlich ist es möglich, Mindeststandards für Arbeitsmärkte festzulegen. Dass ist aber nicht der Weg, den Europa bei der Flexibilisierung seiner Arbeitsmärkte beschreiten sollte. Wir brauchen einen kohärenten Ansatz aus einem Guss, also positive Koordination. Die Crux liegt darin, dass positive Koordination in der EU nur schwer zu erreichen ist. Die Lissabon-Strategie versucht daher, Ziele der positiven Koordination mit Mitteln der negativen Koordination zu erreichen.

Es ist Aufgabe der Mitgliedstaaten, die Elemente der Lissabon-Strategie national zu implementieren, aber bei Nichterfüllung werden sie nicht bestraft. Reicht es aus, dass die Kommission lediglich auf „Peer Pressure“, den Gruppendruck unter den nationalen Regierungschefs setzt, um den Lissabon-Prozess auf dem Gleis zu halten?

Wäre es anders, könnte die Kommission also Reformen in einzelnen Mitgliedstaaten erzwingen, dann würden erhebliche wirtschaftspolitische Kompetenzen von der nationalen auf die europäische Ebene verlagert. So weit sind wir noch nicht. Deshalb versucht die Kommission, die Regierungen zu wechselseitigem Austausch in wirtschaftspolitischen Fragen zu ermuntern, zu einem Schönheitswettbewerben nach dem Motto ‚Wer hat die beste Arbeitsmarktreform gemacht?’. Jedoch erscheinen mir ernsthafte Zweifel an der Wirksamkeit dieser offenen Methode der Koordinierung angebracht. Natürlich ist es wichtig und richtig, Probleme zu vergleichen und in einzelnen Mitgliedstaaten gefundene Lösungen auf ihre Tragfähigkeit in anderen EU-Ländern zu überprüfen. Insgesamt habe ich jedoch das Gefühl, diese Methode ist zu offen, zu schwach, und geht nicht weit genug.

Wie lautet die Konsequenz, wenn „Peer Pressure“ zur Umsetzung der Lissabon-Strategie nicht ausreicht: Brauchen wir eine föderale Wirtschaftsregierung in der EU?

Die Entscheidung über eine föderale Wirtschaftsregierung für die EU ist in erster Linie eine Frage des politischem Willens und nicht der ökonomischen Notwendigkeit. Heute kalkuliert jeder Mitgliedstaat sehr genau, wie viel er der EU gibt und wie viel er aus Brüssel zurückbekommt. Die Summen sind gemessen an nationalen Haushalten ziemlich klein, aber sie werden nicht zuletzt durch die nationalen Medien in hohem Maße politisch aufgeladen. Mehr Kompetenz und Verantwortung auf EU-Niveau würde zwangsläufig bedeuten, dass einige Mitgliedstaaten Aktionen unternehmen müssen, von denen sie selbst nicht profitieren, um dem gemeinsamen Ganzen zu dienen. Es geht hier also letztlich um Umverteilung. Die kann finanziell sein, oder strukturell, ganz egal. Ich denke, einer der interessantesten Wesenszüge der EU ist, dass wir versuchen, einen gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne eine gemeinsame Wirtschaftsregierung mit Kompetenz zur Umverteilung zu etablieren. Ob das wirklich funktioniert, ist noch nicht entschieden. Ich glaube, so wie bisher klappt das nicht. Die Geschichte zeigt uns jedoch den Ausweg: Föderale Wirtschaftsregierungen mit der Kompetenz zur Umverteilung funktionieren.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Scheitern der Lissabon-Strategie und den makroökonomischen Rahmenbedingungen in der EU seit der Währungsunion?

Diesen Zusammenhang gibt es ohne Frage, aber er wird in der Analyse oft übersehen. Man kann hier geradezu von einem Teufelskreis sprechen: Niedriges Wachstum führt zu hoher Arbeitslosigkeit und dringend notwendige Arbeitsmarktreformen müssen daher gegen erheblichen politischen und sozialen Widerstand durchgesetzt werden. Auf diese Weise entstehen Halbherzigkeiten und Verzögerungen, die zwangsläufig den Effekt der Lissabon-Strategie reduzieren. Dieser Zusammenhang zwischen Mikro- und Makropolitiken in der EU ist ein Schwerpunkt meiner Forschung*. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Europäische Zentralbank (EZB) die richtige Wirtschaftspolitik für einen nicht existierenden Konjunkturzyklus macht. Denn der Konjunkturzyklus der Euro-Zone ist virtuell, ein statistischer Durchschnitt. In der Konsequenz müssen einige Länder, insbesondere Deutschland, mit viel zu hohen Zinsen leben. Andere Länder mit starkem Wachstum verfügen gleichzeitig über negative Realzinsen, etwa Spanien und Irland. Diese höchst unterschiedlichen makroökonomischen Rahmenbedingungen beeinflussen den Handlungsspielraum der nationalen Regierungen enorm. Die Schwierigkeiten von Kanzler Gerhard Schröder, die Reform des deutschen Arbeitsmarkts unter denkbar ungünstigen makroökonomischen Bedingungen anzugehen, sind ein eindrucksvolles Beispiel dafür. Es gibt also nicht nur einen Zusammenhang zwischen Mikro- und Makroebene. Er dominiert sogar die wirtschaftspolitischen Gestaltungsspielräume, national in einigen Mitgliedstaaten, aber vor allem auf Ebene der EU.

Zwei weitere Gründe werden in Analysen zum Scheitern des Lissabon-Prozesses immer wieder genannt: Einerseits wolle die Agenda ziemlich subtile Wachstumshindernisse aus dem Weg räumen und diese Notwendigkeit erschließe sich nicht allen relevanten Akteuren. Zweitens sei es ein Problem, dass Lissabon auf die Umsetzung durch nationale Regierungen und Parlamente mehr angewiesen ist, als es frühere Liberalisierungsprogramme der EU waren. Was halten Sie von diesen Argumenten?

Die Zustimmung zur Lissabon-Strategie ist den Regierungen natürlich nicht schwer gefallen, weil es sich ja nicht um positive Koordination handelt. Sie brauchten keinerlei Zwang aus Brüssel zu fürchten, keinerlei Diktat der Kommission. Alles was sie tun müssen, ist, ihren wirtschaftspolitischen Diskurs entsprechend anzupassen, nach dem Motto ‚Ja wir müssen reformieren’, wenn sie Lissabon als Argument für ohnehin geplante Maßnahmen nutzen wollen, oder ‚Im Moment sehen wir keine Veranlassung zu weiteren Reformen. Wir haben schon genug getan.’ Das zentrale Problem ist: Lissabon bedarf der Umsetzung auf nationaler Ebene durch national in den für Lissabon relevanten Fragen ziemlich souveränen Regierungen. Wegen der bereits angesprochenen makroökonomischen Rahmenbedingungen ist das Ausbrechen großen Reformeifers auf nationaler Ebene aber nicht sehr wahrscheinlich. Darüber hinaus gibt es auf nationaler Ebene viel mehr Akteure als auf EU-Niveau: Gewerkschaften und Vertreter der Sozialsysteme, die über Jahrzehnte und in einigen Fällen über Jahrhunderte aufgebaut wurden und deswegen nicht zügig reformiert werden können. Letztlich ist Lissabon nicht viel mehr als eine ziemlich unverbindliche Tagesordnung europäischer Wirtschaftspolitik. Die Kommission kann nicht mehr tun, als die nationalen Regierungen zu bitten, sich daran zu orientieren.

Insbesondere in Frankreich wird die Lissabon-Strategie als neoliberales Projekt diffamiert, bei dem es vor allem um das Zurückstutzen der Rolle des Staates in der Wirtschaft gehe. Auf der anderen Seite schneiden die nordischen EU-Mitglieder, die sich traditionell durch einen aktiven Staat auszeichnen, in allen relevanten Bereichen der Agenda hervorragend ab. Wieviel Staat braucht Lissabon?

Der ökonomische Erfolg von Dänemark, Finnland und Schweden hat weniger damit zu tun, dass Sie nach wie vor einen aktiven Staat in ausgewählten Bereichen wie etwa der Bildungspolitik haben, als mit der Tatsache, dass diese Länder weite Teile der Lissabon-Strategie durch nationale Wirtschaftsreformen seit Beginn der 1980er Jahre vorweg genommen haben. An den zum damaligen Zeitpunkt völlig überdimensionierten Wohlfahrtsstaaten wurden dramatische Veränderungen vorgenommen. Ermöglicht wurde dies in allen Fällen durch einen nationalen Konsens über die Notwendigkeit und konzertierte Aktionen, an denen Politik, Arbeitgeber und Gewerkschaften gleichermaßen beteiligt waren. Andere Länder, die an einer traditionell starken Rolle des Staates festhalten wollen, sehen in Lissabon natürlich einen Angriff auf die Fundamente ihrer Wirtschaftsverfassung. Frankreich gehört ganz bestimmt in diese Gruppe.

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* Henrik Enderlein (2004): Nationale Wirtschaftspolitik in der Europäischen Währungsunion. Campus (Frankfurt/ New York). Die Dissertation wurde von der Max-Planck-Gesellschaft als „herausragende wissenschaftliche Leistung aus der ersten Schaffensperiode junger Wissenschaftler" mit der Otto-Hahn-Medaille 2003 ausgezeichnet.

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