Die Dramatik der vierten Welle in Rumänien
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Daniel SchwahnEs scheint kein Licht am Ende des Tunnels in Rumänien zu geben. Die vierte Welle der Covid-19-Pandemie hat das ehemals zum Sowjetblock gehörende Land fest in der Hand. Nach starken Ausbrüchen im Oktober 2021 haben diese Anfang November wieder leicht abgenommen. Wir haben uns mit Simona Carobene, der Vorsitzenden von FdP-Protagoniști în educație (Stiftung für Entwicklung – die Bildungs-Protagonisten), und Martin B., einem Software-Entwickler aus Cluj-Napoca, unterhalten.
In Rumänien scheinen die Krisen nie vorbei zu sein. Von der Krise der Politik, die seit dem Sommer 2020 national wie international für Schlagzeilen sorgt und bei der es erst jetzt zu einer temporären Lösung gekommen zu sein scheint, über die im Energiesektor bis zur Krise der Wirtschaft. Und als ob dies nicht schon genügen würde, hat der vergangene Sommer zu einer neuen geführt: der Gesundheitskrise im Zusammenhang mit Covid-19, der vierten Welle – die vermutlich tragischste bisher.
"Meiner Meinung nach haben die Geschehnisse hier sehr tiefliegende Gründe. Sicherlich gehen einige davon bis auf die Zeit des Regimes (Ceaușescus, ndr) zurück. Zwei davon sind besonders hervorzuheben: der generelle Mangel an Vertrauen (gegenüber den Politikern, aber auch den Ärzten) und einem sehr schwachen Bewusstsein für das Allgemeinwohl. Diese beiden Umstände sind überall zu beobachten, aber sind sicherlich auf dem Land und generell bei den Menschen mit niedrigem Bildungsniveau weiter verbreitet“, erklärt mir via Mail Simona Carobene, Vorsitzende von FdP-Protagoniști în educație (Stiftung für Entwicklung – die Bildungs-Protagonisten), einer Vereinigung, die Familien und Kindern in Schwierigkeiten in der Hauptstadt Bukarest hilft.
"Über diese tiefliegenden Gründe hinaus gibt es auch Gründe, die mit den heutigen Geschehnissen zusammenhängen, sowohl auf Regierungsebene als auch in den Krankenhäusern. Allein im letzten Jahr (2020) kam es zu 4 Bränden in 4 Intensivstationen des Landes, und zwar: Piatra Neamt (10 Tote); Matei Bals-Krankenhaus in Bukarest (4 Tote); Constanta (9 Tote); Ploiesti (2 Tote)”, schreibt mir Carobene weiter.
In Rumänien, so wie auch in Bulgarien, sprechen die Zahlen eine klare Sprache: Seit Juli 2021 sind fast 40 % aller Todesfälle im Zusammenhang mit dem Coronavirus in der ganzen EU in diesen beiden Balkanländern verzeichnet worden. Die Zahl der Geimpften ist umgekehrt proportional zu der der Verstorbenen – und das ist in Rumänien sicher nicht der Fall, da das Land eine der niedrigsten Impfquoten in Europa aufweist (37,6 % der Bevölkerung).
Martin B (30), Software-Entwickler aus Österreich, lebt in Cluj-Napoca, der historischen Hauptstadt Transsilvaniens im Nord-Westen Rumäniens. "Ich bin letzten September von Wien nach Cluj gezogen, da es hier einen Sitze der Firma gibt, für die ich tätig bin. Man hat mir angeboten, einige Jahre hier zu arbeiten."
Ich frage ihn via Mail, ob er Unterschiede zwischen dem österreichischen und dem rumänischen System im Zusammenhang mit dem medizinischen Notstand bemerkt habe: "Während des ersten Monats ja, da konnte ich einige Unterschiede feststellen. Die Masken wurden allgemein viel getragen, auch wenn die Zahlen niedrig waren. Man muss allerdings sagen, dass ein Antigen Schnelltest hier um die 35 € kostet, was im Vergleich zum Einkommen sehr teuer ist." Ein Impfnachweis wurde von ihm fast nie verlangt: "Das einzige Mal, bei dem ich ihn vorzeigen musste, war, als ich zu einem Musikfestival im Zentrum gehen wollte."
Ich möchte mehr erfahren über die nationale Impfkampagne und ob es einen Gegensatz zwischen den Jungen auf der einen Seite und den Erwachsenen und Älteren auf der anderen Seite bezüglich des Vertrauens in die Wissenschaft und der daraus folgenden positiven Auffassung gegenüber der Impfung gibt. "Was am meisten beunruhigt, zusammen mit den Infektionszahlen, ist die stark sinkende Zahl der Impfungen. Mitte Oktober 2021, auch dank des "Impfmarathons", kamen wir auf über 100.000 Impfungen am Tag (für die erste Dosis). Heute sind wir bei unter 20.000 am Tag. Man entspannt sich wieder, und das ist sehr gefährlich. In den Städten impft man sicherlich mehr, aber einige Gesellschaftsschichten sind nach wie vor skeptisch. Damit meine ich sowohl die jungen Menschen aus eher bildungsfernen Schichten, die sicherlich auch von den sozialen Medien beeinflusst sind, wo von Verschwörungsmythen, ökonomischen Interessen, Freiheitseinschränkungen und so weiter gesprochen wird, als auch die Erwachsenen und Alten, die hingegen wahrscheinlich skeptischer und weniger vertrauensvoll sind und Angst vor den Nebenwirkungen der Impfung haben", bestätigt Simona Carobene.
Martin verweist vor allem auf die ambigue Herangehensweise seitens einiger lokaler politischer Parteien, die – wie in Österreich – die Impfkampagne nicht ausreichend unterstützen, oder die "neue Maßnahmen zur Eindämmung des Virus immer wieder verzögerten."
Kommt die vierte Welle – die eine ganz eigene extreme Tragik gezeigt hat – zu einem Ende? Die Zahlen sind weiterhin hoch, auch wenn "in den letzten beiden Wochen die Ansteckungen stark zurückgegangen sind, die Zahl der Toten ebenfalls rückläufig ist und die Intensivstationen nicht mehr am Limit arbeiten", erklärt Carobene. Zumindest momentan "liest man keine Nachrichten mehr in den Zeitungen, wie sie noch vor einigen Wochen typisch waren. Ich möchte nur an einige erinnern: Zwei Frauen starben im Hof des Krankenhauses von Craiova (sie haben es nicht mal in die Gänge des Krankenhauses geschafft); die geparkten Autos unter dem Krankenhaus von Buzau, wo die Ärzte den Sauerstoff den Patienten brachten, die Stunden im Auto verbringen mussten, bevor sie aufgenommen werden konnten; der Friedhof von Galati konnte die Särge des Leichenschauhauses nicht mehr aufnehmen, und die außerhalb warteten die Familienangehörigen, um die Toten in schwarzen Säcken entgegenzunehmen. Solche Nachrichten lesen wir nicht mehr und wir hören auch weniger Krankenwägen, die mit ihren Sirenen durch die Stadt fahren."
Auch in Cluj scheint die Situation stabiler geworden zu sein. "Die Impfquote ist hier höher", sagt Martin. "Meiner Meinung nach hat sich für Inhaber eines Impfnachweises nicht viel geändert: Restaurants und Läden, wenn auch mit weniger Gästen und Kunden, sind geöffnet. Ich kann mir vorstellen, dass die Situation auf dem Land anders ist."
In Bukarest merkt Simona Carobene an, dass "auch die öffentlichen Verkehrsmittel weniger genutzt werden und man das Auto bevorzugt. Das ist vielleicht eine der unmittelbar wahrnehmbaren Folgen: Der Verkehr hat stark zugenommen. Generell betrachtet funktioniert aber alles, der Großteil der Kinder geht wieder zur Schule. Die Schulen, deren Personal eine Impfquote von 60 % nachweisen kann, wurden wieder geöffnet, d.h. mehr oder weniger 80 % aller schulischen Einrichtungen. In den Straßen der Hauptstadt wird auch die Weihnachtsbeleuchtung angebracht. Auf den ersten Blick scheint also alles normal."
Das "offensichtliche" und "unsichtbare" Drama der Pandemie
"Aber das ist eben nur der erste Eindruck", meint Carobene weiter, "denn im Verborgenen kommt es zu vielen persönlichen Tragödien. Menschen, die ganz allein in Quarantäne sitzen, Angst haben vor der Krankheit und ohne Möglichkeit Arzneimittel oder Lebensmittel zu kaufen (die armen Leute haben keine Kreditkarte...); Menschen, denen es unmöglich ist, die Kosten für die Beerdigung eines Verwandten zu stemmen; Menschen, die von Covid-19 geheilt sind und entlassen werden, aber gleichzeitig sehr geschwächt sind und sich deshalb einen Sauerstoffkompressor kaufen müssen, der allerdings sehr teuer ist."
Ich denke an die Mission der Vereinigung FdP-Protagoniști în educație, deren Vorsitzende Carobene ist: die Unterstützung von Familien und Kindern in Schwierigkeiten, von Menschen, die in Armut leben. Das Virus kennt keine Grenzen und Mauern, ob diese physisch oder zwischen Klassen bestehen: "Eine Covid-19-Erkrankung kann jeden treffen, Arme wie Reiche, ohne Unterschied. Aber für arme Menschen sind die daraus resultierenden Probleme schwerer auszuhalten. Die Armen haben oft Aushilfsjobs oder arbeiten schwarz, ein Gesamt- oder Teillockdown bedeutet deshalb in vielen Fällen den Jobverlust. Darüber hinaus wohnen sie auf viel engerem Raum."
"Es wurde viel über Online-Unterricht für Kinder gesprochen, es wurden viele Tablets gespendet, ohne jedoch daran zu denken, dass das Problem nicht nur ein technologisches ist. Wenn 6 bis 8 Personen in einer Einzimmerwohnung leben, wie soll ein Kind dann ungestört den Unterricht verfolgen? Es gibt Kinder, die kein eigenes Zimmer haben, oder sie lassen die Kamera die ganze Zeit ausgeschaltet, weil sie sich schämen, ihr sporadisch eingerichtetes Zimmer zu zeigen, vielleicht sogar mit einer bettlägerigen Großmutter im Hintergrund. Oder auch Wohnungen auf dem Land, die nicht an das Stromnetz angeschlossen sind...Man geht davon aus, dass die Zahl der Schulabbrüche in den letzten beiden Jahren von 19 % auf 25 % gestiegen ist. Das bedeutet, dass eines von vier Kindern die Schule frühzeitig verlässt."
Ich frage nach, wie der Verein mit dieser Notsituation in ihren Bildungszentren umgeht, ob es genügend finanzielle Ressourcen gibt und ihre Kräfte ausreichen, um sich um die Kinder zu kümmern (vor allem aus armen Familien), aber auch um Essen und Medizin an diejenigen auszuliefern, die sich beides nur schwer leisten können: "Unsere Arbeit hat sich in den letzten Jahren sehr verändert. Wir haben versucht, uns an die Bedürfnisse anzupassen, die uns diese neue Realität auferlegt hat und dabei jedoch ebenfalls versucht, das Wichtigste aufrechtzuerhalten: die Beziehung zu den einzelnen Personen, Kindern, Müttern und Familien. Die Ressourcen dafür haben uns – auch dank der großen Unterstützung seitens vieler Freunde – nicht gefehlt. Dies hat uns erlaubt, uns um wirkliche viele, sehr dramatische Lebensrealitäten zu kümmern. Dabei ist der Bedarf nach wie vor sehr groß und jede Hilfe willkommen. Nebst den Familien in Bukarest helfen wir in diesem Moment circa 16.000 Menschen in fünf Dörfern auf dem Land, wo wir die Arztpraxen mit Arzneimitteln für Infizierte versorgen und jeweils 8 Kindertagesstätten und Grundschulen mit Masken, Desinfektionsmittel, Schnelltests etc. ausstatten. In diesen fünf wirtschaftlich schwachen Gemeinden, die weit von den Impfzentren entfernt liegen, wollen wir auch Impfkampagnen starten und die Bewohner dafür sensibilisieren und sie mit Impfdosen beliefern. Für dieses Projekt brauchen wir noch viel Hilfe.”
Foto oben: RadioFreeEurope
Translated from La quarta drammatica ondata in Romania