Der große türkische Treck
Published on
Translation by:
NinaIn jeder Kultur beginnen die Geschichten anders. Im Iran beginnen sie mit "Yeki bood, yeki nabood" ("Es war einmal, es war einmal nicht…"). Die Schotten sagen "In the days of auld lang syne" ("In den Tagen vor sehr langer Zeit", Anm. d. Übersetzerin). Diese Geschichte beginne ich mit dem griechischen "Μια φορά κι έναν καιρό" - "Einmal in einer anderen Zeit…"
Einmal in einer in einer anderen Zeit, als Flugreisen für die durchschnittliche Migrantenfamilie noch unerschwinglich waren, reisten Konvois westeuropäischer Türken jeden Sommer wie Zugvögel in glühenden, vollgepackten Autors Richtung Mutterland. Oder eher Richtung Stiefmutterland - schließlich hatten einige ihr ganzes Leben in Europa verbracht. Innerhalb von sechs Wochen (den Sommerferien der meisten öffentlichen Schulen) besuchten sie ihre Verwandten und Ahnendörfer, unternahmen ausgedehnte Shoppingtouren und schafften es manchmal sogar, abhängig vom jeweiligen Budget, einen Strandurlaub einzubauen. Über die Jahrzehnte hinweg wurden diese jährlichen Reisen unter türkischen Migranten in Westeuropa zu einer wahrhaftigen Subkultur.
Eine Anhäufung von erworbenem Wissen, das einzig auf der Beobachtung und der Erfahrung, gesammelt von Hunderttausenden von Leuten, basierte, bildet das Zement dieser Kultur. Mein Onkel beispielsweise kennt die gesamte Route von den Niederlanden bis in die Türkei auswendig. Kein einziges Mal erwischten wir ihn dabei, wie er auf die Karte blickte. Er erkannte die Weiden in Deutschland, wusste genau, welche österreichischen Parkplätze die beste Aussicht auf die Alpen boten, und hütete vorsichtig das Geheimnis, welche Tankstellen die saubersten Toiletten hatten. Er behauptete sogar, gewisse Zollbeamte persönlich zu kennen, obwohl keiner ihn je zurück zu grüßen schien.
Ich selber nahm oft die Rolle des Navigators ein, während mein Vater fuhr. Die Straßenkarte lag auf meinem Schoss ausgeklappt und ich verfolgte genau unser Fortschreiten auf den Autobahnen und Gebirgspässen. Ich verkündete meinem Vater die Distanzen, die kommenden Tankstellen und (wenn ich sie kannte) historische Anekdoten über die Region. Im hinteren Teil des Wagens schlugen meine Mutter und Schwester die Zeit tot, indem sie Chips aßen, den GameBoy-Rekord schlugen oder Schlaf nachholten.
Wieder zu Hause, immer in der ersten Septemberwoche, besuchten wir Freunde und tauschten die frischen Anekdoten über die diesjährige Reise aus. Derjenige, der die fesselndste Geschichte hatte, lauschte zuerst geduldig allen anderen, während er kleinlaut an seinem Tee nippte, mit geheuchelter Bewunderung nickte und mit der Geduld eines Kartenspielers, der wusste, dass er eine gewinnende Hand hatte, wartete. Dann warf er lässig seine beeindruckende Geschichte auf den Tisch und ließ seine Rivalen benommen und verblüfft zurück.
Probleme und Sorgen
Die Geschichte des großen türkischen Trecks kann in zwei Perioden geteilt werden: vor und nach dem Krieg in Jugoslawien. Nach Ausbruch des Krieges konnten wir nicht mehr Titos berühmte Autobahn der „Brüderlichkeit und Einheit“ (autoput bratstvo i jedinstvo) nutzen. Schließlich lagen sowohl die Ideologie als auch die Autobahn in Trümmern. Die Alternative war, durch Ungarn und Rumänien nach Bulgarien zu fahren. Einige Abenteuerlustige wagten sich immer noch nach Serbien. Jedenfalls begann die Reise immer mit einer berechenbaren und ruhigen Fahrt auf den Autobahnen durch das Ruhrgebiet nach Regensburg. Wir verbrachten unsere erste Nacht oft in der Umgebung von Wien und Ungarn tauchte als erstes post-kommunistisches Land auf. In der Tat war die ungarisch-rumänische Grenze, bevor Ungarn ein EU-Mitglied wurde, ein erster richtiger Test gewesen.
Unser Wohnmobil schleppte sich unbeirrt auf den heruntergekommenen rumänischen Straßen an furchterregenden Schluchten ohne Leitplanken entlang und durch malerische Täler. Diese idyllische Landschaft wurde meist von den rumänischen Polizisten und ihren erpresserischen Kontrollpunkten getrübt. „Die bulgarischen Bullen sind alle Gangster“, schrien sie im Chor, bevor sie uns das Radargerät zeigten, das offensichtlich im Voraus auf 200 km/h gestellt worden war - eine Geschwindigkeit, welche unser überladenes Wohnmobil keineswegs erreichen konnte.
„Wieso zweihundert, Kollega?“, fragte mein Vater in der Annahme, dass der Polizist grundlegendes Deutsch sprechen würde. Der rundliche transsilvanische Polizist fing an, auf Rumänisch zu gackern und mit seinen Handschellen zu wedeln, worauf mein Vater seine Beherrschung verlor und wütend aus dem Auto ausstieg. Was mich beängstigte, war, dass meine Mutter meinen Vater anflehte: „Schatz, bitte bleib ruhig.“ (Ich stellte mir bereits vier ramponierte Körper vor, die alle verdreht übereinanderlagen, während mein Vater mit seinem blutverschmierten Shirt vom Tatort wegfuhr. „Schatz, was ist passiert?“ … „Oh nichts, Liebling…“) Zum Glück mussten wir Türken nicht wieder eine Spur der Zerstörung auf dem Balkan zurücklassen. Papa weigerte sich einfach das leicht durchschaubare Schmiergeld zu zahlen und drohte damit, das niederländische Konsulat zu kontaktieren und sich in der ersten Stadt einen Anwalt zu nehmen.
Begegnungen
Die letzte Meile ist die längste. Bulgarien war ein Land, in dem wir weder die Verkehrsschilder lesen, noch die ungeschriebenen Verkehrsregeln verstehen konnten. Entgegenkommende Autos blinkten mit ihren Scheinwerfern und die Fahrer klopften aufs Armaturenbrett. Später erfuhren wir, dass dies eine Form von Solidarität war: Ein Zeichen, dass die Polizei später ahnungslose Lenker erpressen würde. Beim ersten bulgarischen Verkehrskontrollpunkt zeigte ein rundlicher Herr mit Schnurrbart nach Norden und rief: „Die rumänischen Beamten sind alle Gangster!“
Da wir das kyrillische Alphabet nicht lesen konnten, mussten wir bei Verkehrsschildern abbremsen, so dass ich in meinem Notizbuch nachschauen und die korrekte Buchstabenkombination zusammenfügen konnte. Bei einigen langen Namen von Städten wie Стара Загора (Stara Zagora) oder Велико Търново (Veliko Tarnovo) mussten wir fast anhalten. Die Grenzen waren immer stressig. Ich erinnere mich an einen stämmigen bulgarischen Grenzpolizisten mit einer Schirmmütze auf der Krone seines Kopfes und alten Schweißflecken unter seinen Achselhöhlen. Er öffnete den Kofferraum des Autos vor uns und wühlte herum, nahm eine Dose Coca-Cola heraus und schüttete deren Inhalt in einem Zug in seinen Schlund, schlug die Kofferraumtür wieder zu und ging ohne mit der Wimper zu zucken weiter.
Wir hatten unsere interessantesten Erlebnisse zweifellos im ehemaligen Jugoslawien. Sein Ruf war unter den Türken sehr gut: Die Straßen waren besser, staatliche Beamte verlässlicher, das Alphabet lesbar, und ja, die Jugoslawen waren immer noch ein bisschen osmanisch geblieben, oder? Und sogar während des Krieges wurde mein Vater vom verrückten Drang ergriffen, durch Serbien zu fahren. Selbst weit entfernt von der Front waren die Folgen des Krieges zu spüren.
Als wir 1996 in Ostserbien zum Tanken anhielten, sah ich einmal einen Jungen ans Fenster klopfen und auf eine Packung matschiger Kekse, die seit Tagen auf dem Armaturenbrett standen und geschmolzen waren, zeigen. Ich starrte auf seine abgemagerte Brust und die hervorragenden Rippen, ehe ich realisierte, dass dieses hungrige Kind um Essen schnorrte. In perfekter holländischer Manier nahm ich genau einen Keks aus der Packung und gab ihm diesen. Er schlang ihn runter und kam, offensichtlich nicht befriedigt, zurück. Mein Vater hatte die ganze Szene gesehen und wies mich an, ihm die ganze Kekspackung zu geben. Der verzweifelte Ausdruck auf seinem Gesicht war etwas, das ich zuvor noch nie gesehen hatte, und er verfolgt mich noch immer.
Der Kriminelle
Soweit ich weiß, habe ich nie bewusst ein Gesetz gebrochen, mit einer Ausnahme. Im ersten Sommer nach meinem 18. Geburtstag dachte ich, dass ich meine Cousins in Istanbul damit beeindrucken könnte, indem ich Marihuana in die Türkei schmuggelte. Schließlich war es in den Niederlanden entkriminalisiert und als Teenager habe ich jeden Sommer vor ihnen damit geprahlt.
Also kaufte ich im Juni 1999, einige Tage vor der jährlichen Abreise, ein paar Gramm Purple Haze in unserem lokalen Coffeeshop. Zu Hause grübelte ich darüber nach, wie ich den Stoff auf der langen Fahrt in die Türkei am besten verstecken sollte. Ich erinnerte mich an einen Dokumentarfilm, der zeigte, wie kolumbianische Kartelle ihre Drogen über internationale Grenzen schmuggelten, indem sie sie in großen Kaffeepackungen versteckten, wodurch die Hunde den Stoff nicht entdecken konnten. Heureka! Dies war eine einmalige Gelegenheit, meinen Ruf als langweiliger Streber zu verlieren. Jetzt würde ich die Boulevards am Bosporus in einem glänzenden Cabriolet entlangfahren, während halbnackte Frauen meinen Nacken massieren und mich ‚Escobar‘ nennen würden. Also kaufte ich zwei Packungen Instantkaffee, leerte diesen in zwei Plastiksäcke und verbarg die Tüte mit dem Gras darin. Ich band sie zu und legte sie auf den Boden meines Koffers und meine Unterwäsche gleich darüber.
Dank den offenen EU-Grenzen habe ich mich während der Reise nie um das Gesetz gekümmert: Seit 2000 gab es keine wirklichen Passkontrollen mehr, und schon gar keine Gepäckkontrollen. Bei der Ankunft an der bulgarisch-türkischen Grenze kicherte ich. Die Bulgaren kontrollierten nie ausfahrende Fahrzeuge und die Türken würden ihre Brüder offensichtlich mit offenen Armen willkommen heißen. In der Morgendämmerung hielten wir bei einem unrasierten, schläfrigen türkischen Zollbeamten in einer wackligen Bude. Der Mann stempelte träge unsere Pässe und kläffte: „Ihr Auto dort drüben parken.“ Mein Vater erstarrte. Nachdem er alle Beleidigungen und Korruption in Rumänien und Bulgarien ertragen hatte, brachte dieser Mangel an Höflichkeit, allen voran in seinem Heimatland, das Fass zum Überlaufen.
„Nein“, fauchte er, „sie sollten sagen ‚Würden Sie bitte Ihr Auto dort drüben parken?'“ Der Beamte kehrte seinen Kopf so langsam zu uns, dass ich erst später bemerkte, dass sein Kiefer vor Überraschung nach unten geklappt war. „Was. Haben. Sie. Gesagt? Sie sagen mir, wie ich meinen Job machen soll? Parken Sie dort Ihr Auto, und zwar schnell! Wir geben Ihnen eine gründliche Durchsuchung.“
An diesem Punkt hatte ich eine außerkörperliche Erfahrung. Von allen Leuten auf der Welt musste mein Vater wirklich gerade diesen Typen provozieren? Ich hatte keine Angst vor der türkischen Polizei: Sie würden wahrscheinlich das Gras konfiszieren, vielleicht mir ein bisschen Angst einjagen, und mich schließlich mit einer Warnung wieder gehen lassen. Aber wenn Papa herausfinden würde, dass sein Streber-Sohn genug Gras geschmuggelt hatte, um während des Urlaubs mehrmals zugedröhnt zu sein, würde sein Zorn riesengroß sein. Zwei türkische Zollbeamte, sichtlich genervt, so früh am Morgen arbeiten zu müssen, kamen heran und befahlen uns auszusteigen und alle Taschen im Auto zu öffnen. Meine Knie zitterten und ich biss mir auf die Lippen, ich stand da, während die Beamten auf meine Tasche zeigten und nach deren Inhalt fragten. Ich wimmerte: „Unterhosen.“ Sie sahen sich gegenseitig an und grinsten. „Brauchen sie so viel Unterwäsche für Ihren Urlaub?“
„Manchmal nässe ich in mein Bett“, improvisierte ich. Er brach in Gelächter aus und nickte fröhlich: „Gut, legen Sie alles zurück und haben Sie eine gute Reise.“
Nach unserer Ankunft in Istanbul öffnete ich die Tasche und stellte fest, dass meine ganze Kleidung nach Gras stank. Ansonsten erinnere ich mich nicht mehr an viel von diesem Urlaub.
Translated from The Great Turkish Trek