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Budapest 1956: Die Fehler der Revolutionäre

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GesellschaftPolitik

Der ungarische Historiker Charles Gati entzaubert den Mythos von 1956: Die Auständischen seien zu brutal vorgegangen – obwohl Moskau zu Reformen bereit gewesen sei.

„Ungarn ist nicht nur ein Opfer der Geschichte. Das Land ist auch an der Geschichte beteiligt“, sagt Charles Gati, Historiker und Professor für Politik an der John Hopkins University in Washington.

Fünfzig Jahre nach dem Aufstand betrachten auch ungarische Historiker wie Gati die Vergangenheit ihres Landes zunehmend kritisch. Ihrer Meinung nach hätten die Revolutionäre einen Kompromiss mit Russland aushandeln können.

Revolutions-Romantik

„Sie hatten eine glorreiche Schlacht gewonnen. Eine Zeitlang (wie schrecklich kurz war diese Zeit!) frohlockten sie sogar, als sie ihre Toten betrauerten und Kerzen auf den tausenden frisch ausgehobenen Gräbern anzündeten“, schreibt der britische Journalist Peter Fryer in seinem Buch „Ungarische Tragödie“, das kurz nach dem Aufstand erschien.

Fryer, der für die Tagezeitung Daily Worker aus Budapest berichtete, schildert packende Szenen des Aufstands von 1956: „Budapest! Die Gebäude mochten ramponiert und entstellt sein, die Straßenbahn- und Telefondrähte am Boden, die Bürgersteige mit Glas übersät und mit Blut befleckt. Aber der Geist der Bürger war ungebrochen.“

Viele Ungarn haben sich diese leidenschaftliche und romantische Sicht auf die Revolution bewahrt. Ungarn habe den sowjetischen Riesen herausgefordert wie einst David den Goliath. Bewegende Fotos von Jugendlichen, die Molotow-Cocktails werfen, haben die ungarischen Kämpfer zu dem Symbol des heroischen Antikommunismus gemacht.

Zum Mythos von 1956 trug auch das kollektive Schuldgefühl des Westens bei. Man hatte die Ungarn in ihrem einsamen Kampf im Stich gelassen. Dies gilt vor allem für die USA, die nach dem misslungenen Aufstand die Mehrheit der 200 000 Flüchtlinge aufnahm.

„Fünfzig Jahre nach dem Aufstand sind die Ungarn Vorbild für alle, die die Freiheit lieben“, betonte George W. Bush bei seinem letzten Besuch in Ungarn. „Alle Völker der Welt, die nach Freiheit streben, werden sich an euch ein Beispiel nehmen. Aus eurem Erfolg werden sie Hoffnung schöpfen.“

„Die Ungarn haben zu viele Forderungen gestellt“

Immer noch gilt der Aufstand von 1956 als erster großer Schritt auf dem Weg zum Zusammenbruch des Sowjetblocks. Aber 2 500 Revolutionäre und mehr als 700 sowjetische Soldaten wurden getötet, weitere 1 200 Ungarn wurden in den folgenden Jahren hingerichtet.

Charles Gati glaubt nicht, dass diese Ungarn „geopfert“ wurden. Sie hätten viel mehr erreichen können. „Das totalitäre sowjetische Regime in Ungarn war nur mit der Unterstützung von Millionen von Menschen möglich“, stellt er fest. „Geschichte ist weder schwarz noch weiß, sondern grau. Etwas vom Schmutz bleibt an uns allen hängen.“

Gatis Vorwurf: Die Revolutionäre hätten während der wenigen entscheidenden Tage realistischer und pragmatischer sein sollen. Denn Moskau sei bereit gewesen, über einige moderate Reformen in Ungarn zu verhandeln. Zu diesem Schluss kommt Gati nach der Analyse zahlreicher CIA-Akten sowie nach Interviews mit Zeitgenossen. Nach 1953 sei die politische Elite der Sowjetunion stark anti-stalinistisch gewesen. Noch am 30. Oktober 1956 hätte sie sich gegen den Einsatz von Gewalt entschieden. Angesichts der Kämpfe, die am folgenden Tag in Budapest ausbrachen, sei dann aber doch die Rote Armee eingesetzt worden. Gegen die gewalttätige Opposition sollte hart durchgegriffen werden.

Außerdem hätten die Ungarn viel zu viele Forderungen gestellt, argumentiert Gati. Nur der Premierminister Imre Nagy hätte in dieser Situation die radikalen Stimmen mäßigen können. Anders, als es unter ungarischen Historikern üblich ist, kritisiert Gati die mythische Figur Nagys. Er sei ein unsicherer Führer gewesen. Im Gegensatz zu Tito habe er sein Volk nicht in Richtung einer liberalen Form des Sozialismus steuern können.

Das Ende eines Mythos

Gatis Kollege László Eörsi sieht das anders. Eine stärkere Zurückhaltung der Revolutionäre hätte seiner Meinung nach nichts am Lauf der Ereignisse geändert. Die Gräueltaten, die von den ungarischen Rebellen gegen Geheimpolizisten verübt wurden, waren seiner Meinung nach eine willkommene Rechtfertigung für die sowjetische Militärintervention. Moskau bekam dadurch die Möglichkeit, sein Einflussgebiet zu sichern.

Der ungarische Journalist Andras Gervai fügt hinzu, dass die Entscheidungen der sowjetischen Führung vollkommen unvorhersehbar gewesen seien. Man könne daher nicht wissen, wie Chruschtschow und seine Genossen reagiert hätten, wenn die Revolutionäre bedächtiger vorgegangen wären.

Auch der Historiker Paul Lendvai geht davon aus, dass die von Gati befürworteten moderaten Reformen ohnehin von vornherein unmöglich gewesen seien. Für die Ungarn sei das kommunistische System in ihrem Land nicht zu reparieren gewesen. Den Revolutionären sei es um alles oder nichts gegangen.

Selbst wenn die ungarischen Historiker den Aufstand von 1956 unterschiedlich interpretieren: Sie alle wollen die Revolution entmystifizieren. Fünfzig Jahre nach den Ereignissen haben sie sich einen nüchternen Blick auf die Geschichte ihres Landes und die Verantwortung ihrer politischen Führer angeeignet. Doch selbst inmitten der aktuellen Feiern und Feste sind die Ungarn weit davon entfernt, sich mit ihrer Vergangenheit zu versöhnen.

Translated from Budapest 1956: a missed opportunity?