Ahorn-Frühling: Studentenproteste in Kanada
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Dinah AzizDie frankophone Provinz Kanadas war lange Zeit ein Hafen des Friedens für die Europäer. Doch momentan erlebt Quebec den größten Streik seiner Geschichte. Ist die Zeit ein Jahr nach dem 'Arabischen Frühling' nun reif für das kanadische Pendant - den 'Ahorn-Frühling'?
Die friedliche kanadische Provinz Quebec erlebt gerade den größten Streik ihrer Geschichte. Der Aufstand begann offiziell am 13. Februar, als die Regierung von Jean Charset (Liberale Partei Quebecs) ankündigte, sie würde schrittweise die Studiengebühren anheben. Von 2168 kanadischen Dollar (1679 Euro) würden die Studiengebühren 2017 auf 3793 kanadische Dollar (2937 Euro) erhöht, was einem Anstieg von 75% in fünf Jahren entspräche. Gerechtfertigt wurde dies als unerlässliche Sparmaßnahme in Krisenzeiten. Von den Studenten allerdings wurde die Ankündigung als ein Frontalangriff gegen das quebecsche Sozialsystem wahrgenommen, das sich noch damit rühmen kann, die niedrigsten Studiengebühren in Nordamerika zu haben.
Krieg der Zahlen
"Die Erhöhung der Studiengebühren ist eine politische Entscheidung, die man nun versucht mit dem Krieg der Zahlen zu rechtfertigen", empört sich Jean-Sébastien Sénécal, Doktorand in klassischer Philologie an der Universität Concordia de Montréal, der sich im Rahmen der Studentenbewegung engagiert. „Die geplante Reform stellt eine Reihe von guten Grundsätzen in Frage, auf die sich die quebecsche Gesellschaft in den 1960er und 70er Jahren geeinigt hatte: Dazu gehören Zugang zu Hochschulbildung für alle aber auch die ursprüngliche Mission der Universität als Ort des Wissens, unabhängig vom Rest der Gesellschaft und vor allem vom wirtschaftlichen Modell.“
Seit fast drei Monaten tragen die Studenten nun schon das rote Kreuz als Zeichen des Widerstands zur Schau und übertreffen sich in Fantasie, um auf ihren Kampf aufmerksam zu machen. An einem Tag verdeckt ein riesiges Spruchband die Brücke Jacques Cartier, am nächsten wird das Gebäude des Bildungsministeriums rot angemalt oder Autofahrer am Eingang der Stadt blockiert. Am 3. Mai marschieren tausend Demonstranten, dem Regen und der Kälte trotzend, spärlich bekleidet in den Straßen von Montréal. Ihr Motto lautet: „in Unterwäsche für eine transparente Regierung“.
"Wir sind alle Studenten"
Auch wenn der Protest eigentlich auf eine erneute Erhöhung der Gebühren abzielt (2007 hat die Regierung bereits über eine Erhöhung von 30% entschieden), ist die Bewegung vor allem Katalysator für umfassendere Forderungen im Sozialbereich. Die quebecschen Dozenten folgten den Studenten und verfassten ein Manifest, das die Logik der Verschuldung anprangert, die die Erhöhung notwendigerweise mit sich bringen wird. „Sie nötigt die Studenten de facto dazu, sich in die Finanzwelt einzugliedern, sich den Entscheidungen der Banken zu unterwerfen. Der Student wird so eher zu einem Vertreter der Reproduktion der sozialen Ordnung als zu einem Bürger, der sich voll und ganz an der Entwicklung der Gesellschaft beteiligt. Die akademische Freiheit und jegliche kritische Dimension der universitären Bildung scheinen Prinzipien von 'gestern' zu sein.“
Eskalation der Gewalt
Und so führt der « Ahorn-Frühling », wie die kanadischen Medien die Protestaktion tauften, die Energie des Widerstands von 2011 fort. Doch trotz dieser Mobilisierung stellt sich die Regierung taub. Denn die Bewegung ist alles andere als einig. Einige Studenten sind solidarisch, legen vor Gerichten Berufung ein, fordern das Recht auf Bildung. Die quebecsche Gesellschaft allerdings scheint, wenn man sich die Medien ansieht, sehr gespalten zu sein. Auf Facebook kursieren Fotomontagen von Sympathisanten der Demonstranten. Sie vergleichen die Schlagzeilen der wichtigsten quebecschen Zeitungen, zum Beispiel anlässlich der Demonstration vom 22. März, bei der 200 000 Demonstranten durch die Straßen Montreals zogen. Während die Tageszeitung Le Devoir, die als unabhängig angesehen wird, „200 000 mal - Hört uns zu“ titelte, behauptet das Journal de Monréal, welches von den Demonstranten beschuldigt wird mit der Regierung zu kooperieren, dass die Studenten ihren Rückhalt verlieren würden.
In letzter Zeit hat die brutale Zerschlagung mehrerer Demonstrationen durch die Polizei die allgemeine Spannung noch weiter gesteigert. Beim Hohen Kommissariat der Vereinten Nationen für Menschenrechte wurde ein Dossier für Beschwerden gegen die Einschüchterung und Brutalität der Polizei angelegt. Während der Demonstration in Victoriaville am 4. Mai wurden Demonstranten schwer verletzt; ein Student hat ein Auge verloren, ein anderer einen Teil seines Ohres. „Es ist sehr schlimm, was hier passiert, die Menschen haben Angst“, gesteht Jean-Sébastien. Eltern, die durch die Eskalation der Gewalt beunruhigt sind, haben die „Bewegung der Weißen Quadrate“ [Symbol des Waffenstillstands; A.d.R.] ins Leben gerufen „um die Regierung Quebecs aufzufordern die soziale Krise, welche das Leben von hunderten von Jugendlichen gefährdet hat, sofort zu beenden.“ Sie fordern ein Moratorium über das Projekt 'Höhere Studiengebühren', „um den Jugendlichen, die ihren Wunsch nach einer besseren, gerechteren Welt heraus schreien zuzuhören“. Und sie fordern eine Beteiligung, „um mit den Studenten über die Bedeutung der Bildung und deren Finanzierung in unserer Gesellschaft zu diskutieren“
Illustrationen: (cc)lariposte/flickr; Video (cc)DélitFrançais/Youtube
Translated from Québec : c’est quoi, ce « Printemps érable » ?