20 Jahre später: Warum Berlin nicht Deutschland ist
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Barbara CantonIn Berlin finden zahlreiche Gedenkveranstaltungen zur Wiedervereinigung der Stadt und ganz Europas statt. Aber wie sehen die Protagonisten des Wandels sich gegenseitig, seien sie nach 1990 geboren, vor 1990 hinzugezogen oder einfach nur Besucher?
“Heben sie bitte ihre Hand, wenn neben ihnen noch ein Platz frei ist“, ruft eine verzweifelte Stimme, die einer jungen Frau gehört, deren Augen das Publikum im Halbdunkeln abtasten. Eine Hand hebt sich. Anna-Marie Schulze steuert darauf zu und klettert über eine lange, vollbesetzte Sitzreihe. Wir befinden uns auf der Berlinale bei einer Vorstellung von Jadup und Boel. Das Kino ist so voll, dass sogar auf den Treppenstufen Leute sitzen. Dabei handelt es sich gar nicht um eine internationale Premiere. Jadup und Boel wurde 1981 in der DDR gedreht, und gerade das macht den Film so interessant. Zunächst von der Partei verboten, kam der Streifen schließlich erst 1988 in die Kinos. Nun wird er im Rahmen einer Filmreihe über das Ende des Kalten Krieges gezeigt, und Junge und Alte finden sich ein, um sich zu erinnern oder die Vergangenheit neu zu entdecken.
Zeugen aus Beton
Anna-Marie, die an der Berliner Humboldt Universität Soziologie studiert, ist 19 Jahre alt. Sie wurde kurz nach der Wiedervereinigung 1990 geboren. „Man kann sich gar nicht vorstellen, dass man hier vor 20 Jahren so gelebt hat“, meint sie nachdem der Film zu Ende ist. „Es erscheint einem unmöglich.“ Es gibt für diese Zeit jedoch Zeugen aus Beton, zum Beispiel draußen vor dem Kino am Potsdamer Platz. Eine Linie aus Pflastersteinen zieht sich über den vielbefahrenen Platz, der heute eines der schillernden Symbole des neuen Berlin ist. Sie markieren den ehemaligen Verlauf der Berliner Mauer, die in ihrer Monstrosität den Platz teilte, der eiserne Vorhang, der die geographischen Begriffe von Ost und West zu politischen Größen machte.
Vor nicht allzu langer Zeit war der Potsdamer Platz nichts als ein Paar Quadratmeter No Man’s Land. Die Gebäude, die hier einst standen, wurden im zweiten Weltkrieg zerstört und beim Bau der Mauer vollständig abgetragen, damit man die Grenzzone besser überwachen konnte. 1989 richteten sich alle Augen auf diesen Platz, als die Mauer fiel. Er zog erneut die Aufmerksamkeit auf sich, als Roger Waters von der Gruppe Pink Floyd hier ein gigantisches Benefizkontert gab. Dieses Mega-Event führte dazu, dass das Gebiet ausführlich begutachtet und schließlich erfolgreich restrukturiert wurde. Moderne Bauten schossen in einem atemberaubenden Tempo wie Pilze aus dem Boden. Das vereinte Berlin erlebte eine Auferstehung.
Mit den neuen Bauten wächst der Schuldenberg
Wenn man aus Deutschland kommt, ist man entweder Westdeutscher oder Ostdeutscher. Aber wenn man aus Berlin stammt, spielt das keine Rolle.
Der argentinische Regisseur Ciro Cappellari wohnt seit 1984 in Berlin. In seinem Dokumentarfilm In Berlin (2009) macht er der Hauptstadt eine Liebeserklärung. „Berlin ist faktisch der einzige Ort, an dem Deutschland wirklich wiedervereint ist“, sagt er. Anna-Marie stimmt dem zu. „Berlin ist nicht Deutschland. Die Stadt ist etwas Besonders. Wenn man aus Deutschland kommt, ist man entweder Westdeutscher oder Ostdeutscher. Aber wenn man aus Berlin stammt, spielt das keine Rolle.“ Um Berlin in eine präsentable Hauptstadt zu verwandeln, wurden weder Kosten noch Mühen gescheut. Die Stadt hat heute rund 60 Milliarden Euro Schulden. Ein Großteil der Steuereinnahmen der Metropole wird zur Schuldentilgung verwendet. Als Besucher bekommt man davon aber nichts mit. Die Graffitis und besetzten Häuser machen einen Teil des Charmes aus. Berlin ist gerade wegen seiner regen Alternativkultur und des kulturellen Lebens angesagt. Das kann man vom Rest Ostdeutschlands nicht behaupten.
Seit den 1990er Jahren zieht es immer mehr Ostdeutsche auf der Suche nach Arbeit fort. Die Arbeitslosenquote ist hoch. Mehr als 10% der Erwerbslosen sind unter 25 Jahre alt. Dieses ökonomische Ost-West-Gefälle kann man auf den ganzen Kontinent übertragen. Der 28-jährige Dennis aus Hamburg ist wegen einer Jobmesse in Berlin. „In Westeuropa gibt es mehr und bessere Arbeitsstellen“, sagt er und führt unter anderem die Löhne, einen höheren Lebensstandard und eine „vermeintlich bessere“ soziale Absicherung an. „Natürlich gibt es Vorurteile gegenüber dem Osten. Deshalb zieht keiner aus dem Westen dort hin.“
Dr. Karin Pieper, die als Postdoktorandin und Gastforscherin zur europäischen Integration an der Freien Universität forscht, sieht auch die positiven Seiten. „Weil man hier gelernt hat, mit Umwälzungen und Anpassungen umzugehen, sind die Menschen in Zentral- und Osteuropa viel flexibler und bereitwilliger, eine Chance zu ergreifen und ins Ausland zu gehen. Westler sprechen noch immer von „den Mitgliedstaaten“ und „Osteuropa“. Sie machen zum Beispiel überhaupt keinen Unterschied zwischen Polen und Ungarn.“
Go East
Und es gibt sie doch, die Westeuropäer, die in den Osten gehen. Die 32-jährige Sophie Decker, Firmenanwältin aus Straßburg, ist jüngst nach Warschau gezogen, um einen polnischen Ökonom zu heiraten. „Die Polen sind sehr freundliche Leute. Ich will weiterhin als Anwältin arbeiten, aber das wird nicht einfach werden. Dabei spreche ich nicht vom Geld. Ich weiß, dass die Bezahlung schlechter sein wird. Das ist für mich in Ordnung. Aber ich will Polnisch lernen und es auch im Beruf sprechen, und das wird eine Weile dauern.“ Die Wirtschaft ist in den Erweiterungsstaaten wesentlich weniger entwickelt als in den ursprünglichen EU-Mitgliedstaaten. Die Europäische Union arbeitet mit Volldampf daran, diese Schere zu schließen. Zwischen 2007 und 2013 wird der Struktur- und Entwicklungsfond 81,5% eines Budgets von 347 Milliarden Euro in die sogenannten Konvergenzregionen pumpen, das heißt hauptsächlich in ost- und zentraleuropäische Länder, in denen das Bruttosozialprodukt unter 75 % des EU-Durchschnitts liegt.
Eine Erfolgsgeschichte kommt aus der ostdeutschen Stadt Bitterfeld-Wolfen. In den neunziger Jahren verließ die Hälfte der Einwohner aufgrund von Arbeitsplatzmangel die Stadt. Dank des Entwicklungsfonds wurde 2001 eine Solarzellenfabrik angesiedelt, die im „Solar Valley“ Thalheim mikromorphe Dünnschichtmodule produziert und bis zum Jahr 2008 250 neue Arbeitsplätze geschaffen haben soll. Es handelt sich um ein Joint Venture des schwedischen Unternehmens Solibro AB und der in Berlin angesiedelten Q-Cells AG. Letzteres Unternehmen begann seine Produktion mit 19 Beschäftigten. Heute ist die Belegschaft auf 800 Beschäftigte angewachsen.
Aber wird eine Angleichung der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse auch etwas in den Köpfen verändern? Es gibt einen Trend zur Nostalgie, nach dem einfachen Leben in der DDR. Ehemalige Staatsbürger werden „ostalgisch“, wenn sie an Vollbeschäftigung und den sozialen Zusammenhalt zurück denken. Parallel dazu hat die Mode den sozialistischen Kitsch für sich entdeckt. Die auf Stasi getrimmte Ostberliner Kneipe Zur Firma ist beispielsweise mit Attrappen von Sicherheitskameras, Uniformen und andere Souvenirs der DDR-Zeit ausgestattet. Eine Touristenattraktion? Vielleicht, aber man darf auch nicht vergessen, dass die Mehrheit der Schulkinder in Ostdeutschland das ehemals kommunistische Land nicht als Diktatur betrachtet, sondern ihm positiv gegenüber steht.
Translated from Twenty years on: why Berlin is not Germany