Zwei Wochen nach den Attentaten: Paris, ça va?
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Zwei Wochen nach den Attentaten in Paris schwankt die französische Hauptstadt zwischen Alltag und Ausnahmezustand. Der Terror hat Spuren hinterlassen. Die Leichtigkeit des französischen Lebensgefühls existiert im Moment nur noch als Souvenir.
Polizei-Sirenen gehören neben dem satten Zuklappen der Métro-Türen oder dem Gläserklirren auf den Terrassen zu den vertrauten Geräuschen in Paris. Doch seit dem 13. November 2015 hat sich der Ton geändert. Das Lachen und die Gespräche auf den überdachten Terrassen sind leiser geworden und der Heulton der Martinshörner lauter. Paris ist aus der Balance gekommen. Einziger Fixpunkt: die heimischen vier Wände. Zwischen Kleiderschrank und Sitzecke steht noch immer der voll behangene Wäscheständer. Im Spülbecken türmt sich das Geschirr. Seit dem 13. November hat sich hier nicht viel getan. Beruhigend, wenn sich der Rest der Stadt in ein Minenfeld verwandelt.
Was zu der Angst und dem Misstrauen hinzukommt, sind die kurzlebigen Wahnvorstellungen. Immer wenn ein Auto mit getönten Scheiben abrupt am Straßenrand anhält, immer wenn ein Motorradfahrer seinen Helm abzieht und die Sturmhaube auf der Haut kleben bleibt, immer wenn ein Paketzusteller einen verdächtigen Karton in den Armen hält. Von der einen auf die andere Sekunde springt das Kopfkino an. Der Geheimagent in einem erwacht. Bärtige, dunkelhaarige Männer in knielangen Gewändern werden zu Terroristen, Frauen in Ganzkörperschleiern zu Komplizinnen. Für Vorurteile und islamphobische Gedanken ist diese Zeit ein idealer Nährboden.
Unbehagen und Beklemmung bleiben spürbar
Solidaritätsbekundungen wie „Noussommesunis“ (Wir sind vereint) sind die Reaktion auf Schubladendenker, die radikale Dschihadisten und praktizierende, gläubige Muslime über einen Kamm scheren. Vielerorts, nicht nur auf dem Versailler Kongress, wo Präsident François Hollande die nationale Einheit beschworen hat, wurde die Marseillaise angestimmt. Sehenswürdigkeiten erstrahlten in den Farben der Tricolore. Zu Füßen der Mariannen-Statue auf dem Place de la République flackern die Flammen der unzähligen Kerzenlichter widerständig im Wind. Ihr Kerzenwachs verbindet sich mit dem Kerzenwachs, der nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo auf dem Sockel der Statue angetrocknet ist. Trotz vieler Durchhalteparolen – „Notafraid“, „PrayforParis“, „Je suis en terrasse“, bleibt das Unbehagen und die Beklemmung spürbar.
Normalität fühlt sich anders an
Aus den Lautsprechern des Weihnachtsmarkts auf den Champs-Élysées dröhnt die Top 10 der bekanntesten Weihnachtslieder, darunter „Last Christmas“ und „Walking in a Winter Wonderland“. Der Duft der frischen Waffeln und des heißen Glühweins benebelt die Sinne und erzeugt kurz den Eindruck einer heilen, vorweihnachtlichen Welt. Kunstschnee und blinkende Girlanden tun ihr übriges. Wären da nicht die schwerbewaffneten Soldaten in Tarnkleidung, die der zuckerwattierten Glitzerwelt einen bitteren Nachgeschmack verleihen. Normalität fühlt sich anders an.
Bis Frankreich wieder zum Alltag übergehen kann, muss noch viel Zeit ins Land ziehen. Der bevorstehende UN-Klimagipfel und die Regionalwahlen werden innen- wie auch außenpolitisch den Blick auf andere Schlachtfelder lenken. Zeit heilt alle Wunden, heißt es. Doch wie lange dauert es, bis dieser eine Gedanke verblasst: „Unter den 130 Todesopfern hätte auch ich gewesen sein können“?
Artikel ursprünglich in der Emszeitung erschienen.