Zur Lage in der Türkei: Zwischen Entfremdung und Entfaltung
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[Kommentar] Vor wenigen Jahren galt die Türkei noch als weltoffen und demokratisch. Heute verfolgt die Armee Kurden im eigenen Land, Auslandskorrespondenten wird der Presseausweis entzogen und Regierungskritiker werden mundtot gemacht – alles unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung.
Im Februar 2014 reiste ich zum ersten Mal in die Türkei, um für ein Semester in Istanbul zu studieren. Schnell wurde mir klar, dass ich mich auf eine besondere Weise mit dem Land verbunden fühlte. Gerade Istanbul war für mich eine aufregende, faszinierende, und vor allem offene Stadt – die Stimmung des Umbruchs, die die Gezi-Proteste im Vorjahr genährt hatten, war noch deutlich zu spüren. Was ich allerdings als eine lebendige Protestbewegung gegen die AKP-Regierung empfand, war in Wirklichkeit das letzte Aufbäumen eines Widerstandes, dem sukzessive der Mund verboten wird.
Wenn ich heute meinen Blick auf die Türkei richte, sehe ich ein Land, das ich nicht mehr verstehe. Vor einigen Tagen erst hatte Präsident Erdoğan verkündet, Terroristen seien alle, die den Terror ermöglichten – ob Abgeordnete, Akademiker oder Journalisten. Wer nicht auf Seiten der Regierung sei, entscheide sich für die Terroristen: „Einen Mittelweg gibt es nicht.“ Er bezieht sich damit auf den Terroranschlag in Ankara vom 13. März dieses Jahres, bei dem 37 Menschen getötet und viele weitere verletzt wurden. Es ist der dritte Anschlag in der türkischen Hauptstadt in den letzten fünf Monaten. Die Regierung des Landes macht die kurdische Arbeiterpartei PKK sowie die PYD, den syrischen Ableger der PKK, und ihren bewaffneten Arm (PYD) für den Anschlag verantwortlich. Schon seit Monaten führt die türkische Armee einen Krieg im eigenen Land: Im Südosten der Türkei, der hauptsächlich von Kurden besiedelt ist, herrscht der Kampf gegen die verbotene PKK. Dabei sind jedoch Auseinandersetzungen in Wohngebieten an der Tagesordnung, Zivilisten sterben, das Militär verhängt immer wieder tagelange Ausgangssperren.
Erdoğans Terrorbekämpfung ist eine weitere Beschneidung von Freiheitsrechten
Den Terror durch staatliche Überwachung zu bekämpfen, ist keine Lösung. Selbst, wer sich für Frieden in den kurdischen Gebieten der Türkei ausspricht, muss fürchten, als Terrorist geahndet zu werden: Erst am Mittwoch sind in Istanbul drei türkische Akademiker verhaftet worden. Sie hatten im Januar eine Petition unterzeichnet, die ein Ende der Gewalt im türkischen Südosten fordert. Wenn Erdoğan sagt, dass „alle, die den Terror ermöglichen“, Terroristen sind, dann spricht er in Wirklichkeit von einer weiteren Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit im Land. Dass kritische Journalisten in der Türkei keinen leichten Stand haben, hat nun die Ausreise des SPIEGEL und SPIEGEL online-Korrespondenten Hasnain Kazim gezeigt. Nach zweieinhalb Jahren verweigert die islamisch-konservative AKP-Regierung dem 41-Jährigen den Presseausweis. Ohne Akkreditierung hat er keine Aufenthaltsberechtigung. Er muss das Land mit seiner Familie verlassen. Auch anderen Korrespondeten wurde die Arbeitsgrundlage genommen. Der Antrag auf einen Presseausweis von Silje Rønning Kampesæter, Auslandsjournalistin für die norwegische Zeitung Aftenposten, wurde abgewiesen. Der "Welt"-Korrespondent Deniz Yücel wird beschuldigt, ein Sympathisant der PKK zu sein. Ihm wurde ebenfalls der Presseausweis entzogen. Die "Welt"-Chefredaktion hat entschieden, dass er vorläufig nicht mehr vor Ort berichterstattet - genauso wie Hasnain Kazim.
Erdoğan will rücksichtslos gegen Andersdenkende vorgehen. Oppositionelle und Regierungsgegner sollen mundtot gemacht werden – unter dem Deckmantel der Terrorbekämpfung. Was die Türkei jedoch momentan wirklich braucht, ist eine Demokratisierung statt einen autokratisch angehauchten Klammergriff. Denn Unterdrückung ruft Hass hervor, und Hass nährt Terror. Ein Teufelskreis.
Die Türkei als sicheres Herkunftsland einzustufen, ist zynisch
Gerade in den heutigen Zeiten ist es wichtig, dass europäische Staaten sich deutlich gegen Menschenrechtsverstöße in der Türkei aussprechen. Das Land mit Samthandschuhen anzufassen, bloß weil es als der einzige Ausweg aus der Flüchtlingskrise gilt, ist heuchlerisch – und falsch. Vor dem EU-Gipfel, der am Donnerstag begonnen hat, lobte Kanzlerin Merkel die Leistungen der Türkei in der Flüchtlingskrise. Zu willkürlichen Verhaftungen durch die türkische Justiz schwieg sie. Auch die Türkei als sicheres Herkunftsland in Betracht zu ziehen, ist ein falsches Signal – für EU-Staaten jedoch ein wichtiger Schritt, um den Flüchtlingsstrom besser kontrollieren zu können. Denn Flüchtlinge, die aus einem sicheren Herkunftsland stammen oder auf ihrer Flucht durch einen sicheren Drittstaat gereist sind, haben in der EU kaum Aussicht auf Asyl. Laut der Bundeszentrale für politische Bildung zeichnet sich ein sicheres Herkunftsland unter anderem dadurch aus, dass es seine Bürger nicht politisch verfolgt. Doch genau das passiert momentan mit den Kurden in der Türkei. Für Erdoğan wäre die Einstufung der Türkei als sicheres Herkunftsland ein Triumph, ein Sieg seines autoritären Regierungsstils über europäische Werte. Das darf nicht geschehen.
Auch wenn mir die Türkei fremd geworden ist, aufgegeben habe ich sie nicht. In wenigen Wochen fliege ich nach Istanbul und habe dabei gemischte Gefühle: Auf der einen Seite Freude, wieder durch die Straßen meiner Lieblingsstadt schlendern zu können. Auf der anderen Seite Angst – nicht vor möglichen Terroranschlägen, sondern vor Resignation. Davor, dass ich Istanbuls Kampfgeist nicht mehr spüren kann.
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