Zukunftsszenario: Der Tag, an dem die EU wiedergegründet wurde
Published on
Wir posten den 27. April 2051. Zum ersten Mal seit über 20 Jahren treffen sich Europas Regierungschefs wieder zu einem Gipfelgespräch.
Die Luft in Reykjavik ist frisch und klar. Klarer, als im rauchgeschwärzten Trümmerfeld des übrigen Europas. Man reicht sich artig die Hand und lächelt reserviert zum Blitzlichtgewitter der Kameras, weil die blutenden Wunden nach einem Krieg, der über 100 Millionen Tote gekostet hat, nicht verheilen wollen. Dann ist man endlich unter sich, ohne lästige Fotografen, ohne neugierige Journalisten, unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
„Schuld an diesem verdammten Krieg waren allein die Ungarn“, macht der slowakische Machthaber Borec seinem aufgestauten Ärger Luft. Erst vergangene Woche kehrte er aus seinem senegalesischen Exil zurück. „Schließlich marschierten die Ungarn widerrechtlich in unser Land ein.“
Das mussten wir tun, rechtfertigt sich König Orban III., Staatsoberhaupt des zerstörten ungarischen Großreichs. „Weil wir unsere ungarische Minderheit zu schützen hatten.“ Er wirft einen bösen Blick auf Queen Vicky, die neu gekrönte britisch-bretonische Königin. „Wenn jemand Schuld am Ausbruch dieses Krieges hat, dann ihr Briten“, geifert er in ihre Richtung. „Mit euren Flugdrohnen habt ihr unser Land in Schutt und Asche gelegt!“
„Wir tragen keineswegs die Schuld“, weist die junge Queen die Vorwürfe zurück und rümpft dabei die Nase, wie nur Aristokratinnen die Nase rümpfen können: „We had no choice! Schließlich hatten wir ein Beistandsabkommen mit der Slowakei.“
„Schuld am Krieg war der norddeutsche Bund“, schnaubt der italienische Papst Pius XIII., der kommissarisch die italienischen Staatsgeschäfte führt, nachdem das verelendete Volk in einer Konterrevolution die unrechtmäßige Militärregierung abgesetzt hat. „Nachdem ihr den Süd-Euro als Zahlungsmittel abgelehnt und damit unsere neue Währung ins Chaos gestürzt habt.“
Süd-Euro und Alpenmark
„Wir mussten das machen“, verteidigt sich der norddeutsche Kanzler, Freiherr von Wintersmorgen, während er sich den modisch blonden Schnurrbart zurechtzwirbelt. „Schließlich mussten wir unsere Anleger schützen. Mit dem aufgewerteten Süd-Euro hätte Frankreich ansonsten unsere Börse untergraben.“
„Das ist lächerlich“, wehrt die französische Staatsministerin Leroc empört ab. „Hättet ihr unsere Währung weiterhin anerkannt, dann hätten wir nicht unsere Grenzen für die deutschen Waren schließen müssen.“
„Unsinn“, widerspricht ihr der austro-süddeutsche Gesandte, der Vorstandsvorsitzende der regierenden Daimler-Bosch-Siemens AG. „Deutschland existierte damals überhaupt nicht mehr, nachdem der wirtschaftsstarke Süden sich mit Österreich vereinigt und die Alpenmark zur Währung erkoren hatte.“
„Schuld trägt die Türkei“, ereifert sich der griechische Revolutionsführer Rousos in seiner olivgrünen Uniform und geht hasserfüllt auf den türkischen General Gürsüs los. „Ihr Türken seid nach dem missglückten EU-Beitritt ohne Vorwarnung in Zypern einmarschiert und habt das Land gewaltsam besetzt.“
„Das halbe“, berichtigt ihn Gürsüs unbeeindruckt. „Die andere Hälfte hatten wir ja schon. Außerdem mussten wir das tun, um das zyprische Volk vor einem drohenden Bürgerkrieg zu schützen.“
Der Streit gärt weiter, Letten beschuldigen Polen, Spanier Katalanen und die Schweiz, die im Auftrag ihrer Banken während des Krieges mehrere Male die Fronten wechselte, die Osteuropäer. Es fehlt nicht viel und die Regierungschefs kündigen den brüchigen Frieden wieder auf und rufen ihre ausgelaugten Truppen erneut zu den Waffen.
„Wir hätten mehr miteinander reden müssen“
„Niemand wollte diesen Krieg“, übertönt endlich der portugiesische Vorsitzende des Ältestenrates, Olivares, das aufgeregte Stimmengewirr erhitzter Gemüter. Verblüfft verstummen die Schreihälse.
„Niemand“, pflichtet auch sein finnischer Kollege Rutiainen, Häuptling der Lappen, bei. „Es ging damals einfach alles so schnell.“
„Ja, wer hätte gedacht, dass Europa so rasch aus den Fugen geraten würde?“, stimmt selbst der schwedische Putschist Lenny Hellström ein. „Dabei hatten wir nach dem Ende der EU doch eigentlich eine Freihandelszone aufrechterhalten wollen, oder?“
„Wir hätten mehr miteinander reden müssen“, murmelt die Gattin des litauischen Präsidenten Kaukovas, die ihren kranken Mann vertritt.
„Aber wir hatten kein gemeinsames Parlament mehr“, wendet der maltesische Prokurator, Dolli, ein. „Stimmt“, meint der südtirolische Freiheitskämpfer Hans-Peter Gruber. „Das Volk war dieser Europäischen Union irgendwann einfach überdrüssig.“
„Weil die Menschen während der Wirtschaftskrise keine Arbeit und keine Zukunft mehr hatten“, ergänzt der irische Medienmogul O’Neil der basisdemokratischen Inselrepublik, der bei den Facebook-Wahlen fast doppelt so oft geliked worden war, als sein sozialistischer Kontrahent.
„In der Krise war sich eben jeder selbst der Nächste“, wirft van Eyk, Führer der heiligen flämischen Nation ein.„Diese Union soll sehr bürokratisch gewesen sein“, näselt die rumänische Honorarkaiserin Comeci. Alle nicken, weil es so in den Geschichts-Blogs zu lesen steht.
„Ich glaube“, schlägt Königin Vicky vor, „wir sollten eben jene Union wieder ins Leben rufen. Für den Frieden in Europa war sie anscheinend unabdingbar.“
„Die soll sogar mal den Friedensnobelpreis bekommen haben, auch wenn’s damals niemanden wirklich interessiert hat“, weiß der kroatische Arbeiterführer Hrnic.„Hm“, mischt sich auch der bosnisch-makedonische Sultan Markovic ein. „Frieden ist nun mal kein Selbstläufer.“
Wieder nicken alle. Dann treten sie hinaus zu Journalisten und Fotografen; hinaus in die klare Luft Islands; zu den Völkern Europas, ihren Entschluss zu verkünden.
Illustrationen: Teaser (cc)narghee-la/flickr; Im Text (cc)motorpsykhos/flickr, (cc)Jorn Izerda/flickr