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Zuhause ist sowas von 2015

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Story by

Katha Kloss

LifestyleHeimat 2015

2015 flüchteten mehr Menschen als je zuvor vor unmenschlichen Lebensbedingungen. 

Dieses Weihnachten war anders. Nicht so wie sonst. Das Foie Gras, das Feigenchutney, der Champagner - alles schmeckte fade. Es wollte nicht so recht Stimmung aufkommen bei den Cavalliers. Eigentlich hätte er doch längst da sein müssen. Aber kein Lebenszeichen von Victor. Sein leerer Stuhl war ein Störfaktor gewesen. Den ganzen Abend lang hatten sie ihn angestarrt und sich gefragt, wo er denn nur bleibe.

„Das gibt es doch nicht. Er hätte schon vor Stunden hier sein sollen“, sagt der Vater und runzelt dabei die Stirn. Eigentlich schicke Victor regelmäßige Updates, zumindest eine Message in der Cavalliers WhatsApp-Familiengruppe hätte es sein können. Oder Facebook, eine Mail. Doch heute? Totale virtuelle Funkstille. Da wird doch nichts passiert sein?

„Das musste ja irgendwann soweit kommen“, sagt der Vater argwöhnisch. „Er hat es ja nicht anders gewollt. Seit zwei Jahren geht das jetzt schon so mit seinem Lebensstil. Dass er kein Zuhause mehr wollte, keine Bindungen. Alles aufgegeben hatte er - urplötzlich. Die Wohnung in Nantes gekündigt. Kein fester Wohnsitz - weg damit. Weg von hier, von Zuhause. Den Vertrag mit dem Stromanbieter, Canal+. Alles, alles, alles. Nur Handyvertrag und Onlinebanking hat er behalten. Sein ganzes Hab und Gut in einer Box weggesperrt. Abschließen und los. Wohin? Wohin es mich treibt. Der Weg ist das Ziel undsoweiterundsofort.

Familie, Haus, Vorgarten, sowas ist dem modernen Nomaden zuwider. Wer wohnt denn schon noch an einem festen Ort, wenn Arbeit, Liebe, Freunde doch sowieso über den ganzen Kontinent verstreut sind? Wozu noch Miete zahlen? Wozu einen 9-18 Uhr Bürojob mit vorprogrammierten Rückenschmerzen, wenn man als Programmierer doch bequem von überall Codes tippen kann? Heute in Madrid, morgen London. Grenzenlos. Das Leben in einem Koffer. Schnell noch ein AirBnB reservieren, das Abendessen bestellen, neue Leute kennenlernen - geht alles online.

Auf der Flucht

Frei sein wollte er, frei und wild leben. Sehen, wo die Arbeit, die Reise, neue Freunde ihn hin transportieren. Sich treiben lassen. Unterwegs zu Hause sein. „Da soll es jetzt ziemlich viele geben, die quasi auf der Flucht sind. Auch Familien gibt es“, hat er mir mal gesagt. „Man muss es nur wollen.“ Alles zurücklassen, Leben auf der Überholspur, nicht in der Sackgasse. Sowas eben.

(Es war schlimm zu Hause)

‚Ich weiß nicht, wo er jetzt ist‘, denkt der Vater besorgt. Das einzige  Zuhause, das er noch kennt, ist Internet. Sobald er sich in das Wireless einloggt, fühlt er sich angekommen. Dass er sich gar nicht meldet... Netz gibt es doch heute überall. In Paris haben die sogar neue Bushaltestellen, an denen man sein Telefon laden kann. Das kann doch nicht so schwer sein.

Bing - das Smartphone des Vaters. Eine Nachricht. Endlich. „Es ist Victor“, atmet der Vater auf.

Von: v.cavallier@gmail.com - Datum: 25/12/2015 - 00:13

Lieber Paps,

sorrysorry, ich kann nur kurz schreiben, bin wie immer unterwegs… alles Mist. Hatte Zug gebucht und alles und dann das. Mitten in der Pampa gab es ein Problem mit der Stromversorgung. Noch vor der Grenze. Hab‘ keine Batterie mehr auf dem Handy. Und dann haben die gesagt, hier geht heute nichts mehr. Mitten auf dem Lande. Bin jetzt erstmal mit einer Gruppe ins nächste Dorf gelaufen. Schauen, ob es da ne Herberge oder sowas gibt. In einem Haus brannte zum Glück noch Licht. Schaffe es wohl heute leider nicht mehr nach Hause Paps…

Es klopft. „Hallo, ich heiße Victor, ich bin Franzose. Mein Zug hatte eine Panne. Ich bräuchte kurz dringend eine Internetverbindung.“

„Victor? Dann komm mal rein, hier entlang. Fühl dich wie zuhause

„Das Netz und das Passwort stehen hier auf dem Zettel“, sagt Abdel. Hastig öffnet Victor seinen Laptop und tippt das Passwort: R-E-F-U-G-E-E-S-W-E-L-C-O-M-E.

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Dieser Artikel ist Teil unserer Spezialserie zum Jahresende - Heimat 2015.

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