Wohnungslos in Paris: Schlafen unter freiem Himmel
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Mehr als 10.000 Menschen leben in Paris auf der Straße, in Métros und in selbstgebauten Unterkünften aus Karton und Europaletten. Mit ihrem Hab und Gut ziehen sie durch die Stadt. Manchmal auf der Suche nach einem neuen Unterschlupf, manchmal einfach nur für einen heißen Kaffee. Ein Besuch in einer Hilfseinrichtung für Obdachlose.
Zwischen dem Gare de Lyon und dem Gare d’Austerlitz herrscht jeden Tag viel Fußverkehr. Touristen schieben ihre Trolleys über die Seinebrücke. Geschäftsmänner hechten zum Zug, Schülergruppen knipsen aufgeregt die ersten Schnappschüsse von Paris.
In diesem Trubel zwei ältere Männer mit vollgepackten Sackkarren. Sie ziehen ihre abgewetzten Taschen, Schlafsäcke und Decken hinter sich her. Im Gegensatz zu den Leuten um sie herum sind sie nicht auf dem Weg zum Bahnhof, sondern zum roten Backsteinhaus, Ecke Quai de la Rapée und Boulevard de la Bastille. Ein von außen unscheinbares Gebäude, das direkt an das Becken „Bassin de l’Arsenal“ grenzt, wo Sportyachten gemütlich hin- und herwippen.
An der Eingangstür des roten Backsteinhauses ist ein kleines Schild mit der Aufschrift „Aurore Association“ angebracht. Ich gehe hinein. Mein erster Blick landet in einem großen Aufenthaltsraum, in dem etwa 60 Männer sitzen, Kaffee trinken, in der Métro-Zeitschrift lesen und fernschauen. Eine Reportage über den neuen Star Wars-Film flimmert gerade über den Bildschirm. Auf dem Boden liegen Treckingrucksäcke und Koffer. Es könnte der Warteraum eines Bahnhofs sein, es könnte…
„Bonjour Monsieur“ ruft Fanny Rosoy einem der eintretenden Männer entgegen, dem ich bis hierhin gefolgt bin. Sie ist die Einrichtungsleiterin und spricht jeden Mann mit „Monsieur“ an, weil sich das einfach so gehört. Das habe etwas mit Wertschätzung zu tun, erklärt sie mir.
Kaffee als Eisbrecher
Jeden Tag empfängt sie zusammen mit ihren Kollegen rund 100 Wohnungslose aus der ganzen Umgebung. Darunter „Stammkunden“, aber auch Neuankömmlinge und Flüchtlinge. „Der erste Kontakt entsteht über einen Kaffee“, sagt sie und fügt hinzu „viele schämen sich, reden nicht viel. Unsere Mission ist es, sie hier willkommen zu heißen und ihnen bei der Wohnungssuche zu helfen.“
Bedürftige Personen können duschen, ihre Kleidung waschen lassen und einen Arzt aufsuchen. Kostenlos, aber mit vorheriger Terminabsprache. Vor einigen Jahren gingen hier auch noch Frauen ein und aus. Doch häufig kam es zu Unstimmigkeiten im Duschraum, der aus drei Einzelkabinen besteht. „Viele Frauen haben sich geniert.“, vertraut mir Fanny Rosoy an. Um das Konfliktpotential zu verringern, wurde eine Einrichtung für Frauen aufgebaut. Nur ein paar Kilometer von der „Aurore Association“ entfernt. Beide Zentren sind in den Räumlichkeiten der Stadt Paris untergebracht.
Vorbei an einem kleinen Garten, der von allen liebevoll "Cour Royale" genannt wird, führt mich die Einrichtungsleiterin in ihr Büro. Cola-Flaschen, Kartons mit Designer-Schals und Fruchtsäften stapeln sich. "Diese Spenden gibt's an Weihnachten. Die habe ich nur für den 25. Dezember aufbewahrt.", sagt sie mit Vorfreude in der Stimme. Am ersten Weihnachtstag lädt sie 80 Obdachlose zu einem Weihnachtsessen ins rote Backsteinhaus ein. Die Einladungskarten liegen schon bereit.
Nicht nur an Weihnachten organisiert Aurore Association ein gemeinsames Essen, auch an zwei Tagen unter der Woche versorgen Fanny Rosoy und ihre Mannschaft die Obdachlosen mit einer Mahlzeit.
3,8 Millionen Menschen ohne „ordentliche Wohnung“
Laut der Nationalen Statistikbehörde Insee stieg die Zahl der wohnungslosen Menschen in Frankreich von 2001 bis 2011 um 50% an. 140.000 Personen waren im Jahr 2012 ohne feste Bleibe, davon allein 10.000 im Pariser Stadtgebiet. Grund dafür könnten die gestiegenen Immobilienpreise, der Mangel an Sozialwohnungen und die überfüllten Notunterkünfte sein. In dem zuletzt vorgelegten Jahresbericht der Stiftung Abbé-Pierre für die Unterbringung der sozial Schwachen ging außerdem hervor, dass 3,8 Millionen Menschen in Frankreich keine „ordentliche Wohnung“ haben. Sie leben in Camping-Wagen, Kellergeschossen, Garagen und Notunterkünften. Wie kann es sein, dass mitten in Europa genauso viele Menschen, wie Berlin Einwohner hat, am Existenzminimum nagen?
Die Zahlen sind erschreckend und entfalten im Schein der vorweihnachtlichen Glitzerlichter ihre ganze Bitterkeit. Weihnachten - das Fest der Familie im beheizten Wohnzimmer. Weihnachten - der Moment der Heimatgefühle. Weihnachten – ein Tag wie jeder andere, an dem sich Serge mit kalten Füßen und hungrigem Magen schlafen legt. Serge? Ein SDF, sans domicile fixe (ohne festen Wohnsitz), dem ich in der Aurore Association begegnet bin. Er begleitet mich zurück zu meinem Fahrrad. Als ich ihn frage, was er sich unter „Heimat“ und „Zuhause“ vorstellt, sagt er: „Einen Schlüssel zu haben und hinter sich abzuschließen zu können – das bedeutet für mich Zuhause zu sein.“
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Dieser Artikel ist Teil unserer Spezialserie zum Jahresende - Heimat 2015.