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Wo liegt die Zukunft des „Europäischen Wohlfahrtsstaates“?

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Die gegenwärtigen Reformdebatten um die Zukunft des Wohlfahrtsstaates verunsichern die Bürger Europas. Vielfältige Einschnitte verstärken dieses Gefühl. Trotzdem ist es verfrüht, vom Ende des Sozialstaates zu sprechen.

„Ending welfare as we know it.“ Dieser Satz des ehemaligen amerikanischen Präsidenten Bill Clinton könnte auch von so manchem Politiker in Europa stammen. Zunehmende Krisensymptome haben im letzten Jahrzehnt die nationalen Reformdebatten in Europa angeheizt. Vorbei die Zeiten, in denen die „Renten sicher sind“, wie der langjährige deutsche Arbeitsminister Norbert Blüm in den 90er Jahren noch beschwichtigend meinte. Die Gewerkschaften sprechen von „Kahlschlag“, während die Unternehmer Standortnachteile fürchten. Eines ist klar: übermächtig erscheint inzwischen der Druck auf die sozialen Sicherungssysteme, weil der Wettbewerb mit zunehmender Globalisierung härter wird, die Arbeitslosenzahlen teilweise rapide ansteigen und die demographische Entwicklung einen fundamentalen Wandel der Bevölkerungs- und Familienstrukturen in Europa einläutet.

Drei Typen in Europa

Auch wenn die europäischen Wohlfahrtsstaaten unter ähnlichen Anpassungsdruck geraten sind, verlaufen die nationalen Reformdebatten unterschiedlich. Insofern ist es irreführend, von einem Europäischen Wohlfahrtsstaatsmodell zu sprechen. Zu unterschiedlich sind die nationalen Systeme sozialer Sicherung, zu verschieden die Traditionen der wohlfahrtstaatlichen Entwicklung im Verlauf von über einhundert Jahren. Diese Erkenntnis bildete den Hintergrund der Arbeiten des dänischen Soziologen Esping-Andersen, der die These vertritt, dass sich in Europa drei Typen von Wohlfahrtsstaaten unterscheiden lassen.

Arbeiten und trotzdem arm

Großbritannien gilt als europäischer Vertreter des angelsächsischen oder liberalen Modells. Das Land hat zwar nur mit einer Arbeitslosigkeit von gegenwärtig 5 % zu kämpfen, gleichzeitig sind die Leistungen des Wohlfahrtsstaates, die primär über Steuern finanziert werden, aber relativ gering. Die Bürger sind angehalten, für Krankheit und Alter privat vorzusorgen, die staatlichen Leistungen bewegen sich auf Sozialhilfeniveau. Ein aufnahmefähiger Niedriglohnsektor bildet die Voraussetzung, der schwache Sozialstaat den Anreiz für eine rasche Reintegration in den Arbeitsmarkt. Kehrseite dieses Modells: eine zunehmend verarmende Unterschicht – die so genannte „working poor“ –, die trotz Arbeit am Existenzminimum lebt. Die hohe Flexibilität des Arbeitsmarktes und die relativ geringe finanzielle „Last“ der Sozialsysteme machen eine Anpassung an geänderte Rahmenbedingungen ohne tief greifende Reformen möglich – Folge einer traditionell staatskritischen Einstellung und der „Errungenschaften“ der Thatcher-Regierung in den 80er Jahren.

Teure Solidarität

In den skandinavischen Ländern fallen Arbeitslose, Kranke und Alte in ein weiches soziales Netz. Ziel ist Gleichheit auf höchstem Niveau – der Wohlfahrtsstaat ist in diesen Ländern am stärksten ausgebaut. Neben finanziellen Zuwendungen besteht ein dichtes Netz an sozialen Dienstleistungen, die jeder (weitgehend) kostenlos in Anspruch nehmen kann. Krippen- und Kindergartenplätze für jedermann – ganztags – oder elternunabhängige Zahlungen zur Finanzierung des Studiums verdeutlichen dies. Trotzdem ist in Skandinavien die Arbeitslosigkeit relativ gering (Schweden 4%, Dänemark 5,1%) und nirgendwo sonst sind so viele Frauen in den Arbeitsmarkt integriert (Café Babel, 12.01.04). Ansonsten ließe sich ein solch generöser Wohlfahrtsstaat kaum finanzieren; auch wenn – darüber stöhnen viele Skandinavier – die Steuerlast besonders hoch ist. Gleichheit will eben solidarisch bezahlt werden. Die hohen Ausgaben für den Sozialstaat haben in den 90er Jahren Reformen notwendig gemacht: die sozialstaatlich verwöhnten Skandinavier müssen sich inzwischen mit höheren Eigenbeteiligungen und geringeren Sozialzahlungen zufrieden geben.

Statusdenken statt Gleichheit aller

Deutschland, Frankreich und Italien gelten als Vertreter des kontinentaleuropäischen bzw. konservativen Wohlfahrtsstaates. Dieser Typus liegt zwischen dem generösen skandinavischen und dem knauserigen angloamerikanischen Modell. Ziel ist nicht die Gleichheit Aller wie in Skandinavien, sondern es gilt, den über Erwerbsarbeit erworbenen Status zu erhalten. Deswegen sind soziale Leistungen stark an die individuellen Einzahlungen zu Erwerbszeiten geknüpft. Die sozialen Sicherungssysteme sind weitgehend beitragsfinanziert, was das Problem aufwirft, dass in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit wie wir sie gegenwärtig in Deutschland (9,7%), Frankreich (9,4%) und Italien (9,1%) erleben, die finanzielle Basis der Sozialsysteme wegschmilzt. Konservative Wohlfahrtsstaaten kämpfen mit niedrigen Erwerbsquoten – insbesondere von Frauen. Die klassische Rollenteilung der Geschlechter – Männer arbeiten, Frauen ziehen Kinder auf und kümmern sich um den Haushalt – steht traditionell hoch im Kurs. All dies ist Gegenstand der gegenwärtigen Reformdiskussion in den kontinentaleuropäischen Wohlfahrtsstaaten. So wurden in Deutschland und Frankreich unter linken Regierungen Programme zur stärkeren Eingliederung arbeitsloser Jugendlicher und erwerbsloser Mütter (von denen 94% den Wunsch haben zu arbeiten, dem aber nur 48% aller Mütter entsprechen können) in den Arbeitsmarkt aufgelegt. Zudem soll verstärkt privat vorgesorgt werden.

Jedes Modell hat unterschiedliche Stärken und Schwächen: ein engmaschiges soziales Netz geht mit einer hohen Steuerbelastung einher, in einem „schlanken“ Sozialstaat wächst die Einkommensungleichheit und hohe Arbeitslosenzahlen sind das Problem der kontinentaleuropäischen Staaten. Trotz der Unterschiede stehen allen Wohlfahrtsstaaten in den kommenden Jahren weiterhin mehr oder weniger tief greifende Veränderungen bevor. Dabei ist ein Wechsel zwischen Modellen kaum zu erwarten – Entwicklungen sind zumeist „pfadabhängig“. Trotzdem bleibt zu hoffen, dass die soziale Gerechtigkeit ihren in Europa traditionell hohen Stellenwert nicht verlieren wird.