Wird Brüssel zu Brussels?
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Von David Scoubeau Übersetzt von Maike Wohlfarth Brüssel ist ein wahrer kultureller Schmelztiegel. Es ist die Hauptstadt Belgiens, Flanderns und Europas, zweisprachig, von zwei Regionen umgeben und durch zahlreiche ausländische Gemeinschaften geprägt. So stellt sich die Frage, was die wirkliche Identität der Stadt und ihrer Einwohner ausmacht.
Falls sich Belgien auflösen sollte, hätten 40 Prozent der Brüsseler gern, dass ihre Stadt zu europäischem Gebiet wird. Das ergab eine Umfrage von TV Bruxelles im Mai letzten Jahres. Natürlich steht das nicht zur Debatte. Diese Möglichkeit war nie mehr als eine Überlegung ohne jegliche Auswirkungen – auch wenn sie schon oft geäußert wurde. Die Ergebnisse der Umfrage überraschen dennoch. Ist Brüssel also eine europäische oder eine belgische Stadt?
Ciprian Alionescu, ist vor 2 Jahren nach Brüssel gezogen. Er hat die Eignungstests durchlaufen, um für die Europäische Kommission zu arbeiten. Für ihn besteht kein Zweifel daran, dass Brüssel DIE europäische Stadt ist: „Ich habe in Rumänien, Wien und auch für kurze Zeit in Luxemburg, wo ebenfalls viele Expats leben, gewohnt. Aber ich habe mich noch nie so sehr im Herzen Europas gefühlt wie hier.“ Victoria Tebar, Spanierin, seit 2004 in Brüssel, sieht das genauso: „Ich habe auch eine Zeit lang in Italien gelebt. Aber in Brüssel spürt man die europäische Atmosphäre wirklich am intensivsten.“
Die zwei Auswanderer haben eine Erklärung dafür parat: „Hier fühlt man sich nicht als Ausländer“, meint Victoria. „Man merkt, dass die Brüsseler daran gewöhnt sind, ihre Stadt mit Einwanderern zu teilen und dass sie sehr offen sind.“ Bei seiner Ankunft in Brüssel hatte Ciprian den gleichen Eindruck: „Man fühlt sich hier eher willkommen als in den Ländern, in denen es einen starken Nationalstolz gibt. Die Brüsseler kennen es schon, dass es einen kulturellen Mix aus Wallonen und Flamen gibt, man spürt wirklich die Toleranz und das in ganz Brüssel, nicht nur im Europaviertel.“
Brüssel trotz oder wegen Europa
2008 zählte die Gemeinde „Stadt Brüssel“ 153.180 Einwohner, darunter 105.779 Belgier und 27.040 Ausländer aus anderen Mitgliedsstaaten der EU. Seit 1958, dem Beginn der Ansiedlung der europäischen Institutionen, steigt die Zahl der Einwanderer stetig an. Die Stadt hat ihre Identität als europäische Hauptstadt angenommen und diese auch durch verschiedene Aktionen zum Ausdruck gebracht: „Mir fiel vor allem auf, wie leicht es ist, sich zu einem fairen Preis in einen Sprachkurs einzuschreiben“, so Victoria.
Die Neuankömmlinge fühlen sich gut aufgehoben. „Die Stadt hat alles getan um uns einen guten Empfang zu bereiten. Bei unserer Ankunft wurde uns eine Checkliste gegeben, um uns zu erklären, was wir alles zu tun haben“, berichten Victoria und Ciprian. Es hänge jedoch auch davon ab, in welchem Viertel man wohnt. „Ich wohne in Etterbeek, einer sehr gut organisierten Gemeinde, die auf Europa eingestellt ist. Für einige meiner Freunde, die in anderen Vierteln wohnen, war es nicht so einfach“, gibt Ciprian zu. Für Victoria gibt es dennoch einen Wermutstropfen: „Obwohl es eine sehr europäische Stadt ist und die politischen Maßnahmen der Regierung vorteilhaft für die Expats sind, hat man es auf kleinerer Ebene, wie zum Beispiel in der Schule, nicht immer so leicht“. Gibt es also vielleicht eine gewisse Differenz zwischen der Stadt, die auf europäischer Ebene eine wichtige Rolle spielen will und den Brüsselern, die sich dennoch zu Hause fühlen wollen?
Und wo bleiben die Brüsseler bei alldem?
Die Ergebnisse der Umfrage von TV Bruxelles, könnten glauben lassen, dass die Bewohner Brüssels vor allem pro-europäisch eingestellt sind. Doch Pascal Dewit, Politologe an der Freien Universität Brüssel (ULB) meint zu der Idee, Brüssel im Falle eines Scheiterns Belgiens zu europäischem Gebiet zu machen: „Ich glaube nicht, dass es das ist, was die Brüsseler wirklich wollen. Aber der Vorschlag würde es möglich machen, sich von den Problemen zwischen den belgischen Gemeinschaften zu lösen. Er ist vielmehr eine soziale Wunschvorstellung, eine romantische Idee.“
46,17 % der Einwohner wünschen sich ein autonomes Brüssel innerhalb eines Bundesstaats. Vorbei mit der Gemeinschaftsverwaltung. Für Didier Gosuin, Politiker der Partei Mouvement Reformateur, ist es vor allem ein Wunsch der niederländisch-sprachigen Bevölkerung: „80% der flämisch-sprachigen Brüsseler wünschen sich, dass ihre Stadt eine vollkommen eigenständige Region wird.“ Die Brüsseler sind also vor allem Brüsseler – sie fühlen sich nicht unbedingt als Flamen oder Wallonen sondern vor allem als Einwohner der belgischen Hauptstadt. „Man spürt eine echte Brüsseler Identität. Ich glaube von allen Belgiern sind sie sogar die belgischsten, da sie den beiden Gemeinschaften offener gegenüberstehen.“, stellt Victoria fest. „Ich denke, dass die Brüsseler froh darüber sind in der Hauptstadt Europas zu leben und dass die Toleranz gegenüber anderen Kulturen ihre Stärke ist. Diese Offenheit gibt es in anderen Städten nicht“, ergänzt Ciprian.
Stadt der Vielfalt
Einer demographischen Studie von André Lambert und Louis Lohlé-Tart zufolge, „füllt sich die Stadt mit Ausländern.“ Jedes Jahr kommen über 19.000 Ausländer in die Stadt und 12.000 Belgier verlassen sie im Gegenzug. Das bestätigt auch Victoria: „Seit ich hier bin, ist die Stadt immer kosmopolitischer geworden. Im Krankenhaus gibt es immer auch jemanden, der deine Sprache spricht. Man merkt, dass die Hauptsprache Französisch bleibt, aber es ist einfacher geworden. Ich finde das fantastisch.“ „Diese Mischung ist etwas Einzigartiges, was ich nur aus Brüssel kenne“, erklärt Ciprian. „Die Londoner sind sehr stolz auf ihre Minderheiten, aber diese leben alle nach dem angelsächsischen Vorbild. Brüssel ist die einzige Stadt in der man Europäer mit seiner eigenen Kultur sein kann, ohne sich als Ausländer zu fühlen.“
Belgisch oder europäisch also? Brüssel ist schon für Belgien, mit seinen drei Gemeinschaften, eine bunt gemischte Hauptstadt. Unter diesen Umständen ist es schwierig die Grundeigenschaften eines Brüsselers zu benennen, schließlich kann dieser Flame, Wallone, eingebürgerter oder nicht eingebürgerter Ausländer sein. Aber eins ist sicher: Brüssel ist stolz darauf, die Hauptstadt von 500 Europäern zu sein.