Wie moslemisch ist die Türkei?
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Neben der sunnitischen Mehrheit leben 20 Millionen Aleviten im Land am Bosporus. Die humanistisch geprägte Religionsgemeinschaft muss trotz Beteuerungen der Regierung ihren Glauben verstecken.
„Es kann kein besseres Hab und Gut geben als Vernunft;
keinen besserer Freund als ein guter Charakter;
keine bessere Erbschaft als Anstand;
keine bessere Würde als das Wissen“
Ali Ilhami Dede
Wäre nicht der fremde Name, könnte man meinen, dieser Ausspruch sei von Goethe, Schiller, oder von Humboldt. Jedenfalls von einem großen Humanisten. Ein Humanist war der Autor dieses Spruches tatsächlich. Nur kommt sein Name in unserem europäischen Bildungskanon nicht vor. Auch nicht im offiziellen Curriculum seines Heimatlandes Türkei. Denn der Dichter Ali Ilhami Dede war Alevit. Und das Alevitentum ist in der Türkei verboten.
Das Forum Menschenrechte, ein Netzwerk deutscher Menschenrechtsorganisationen, warnt, dass die Lage der Aleviten in der Türkei „noch weitaus kritischer“ sei als die nicht-muslimischer Religionsgemeinschaften. In der türkischen Republik gilt Nationalismus als Verfassungsprinzip, was in der Praxis alle Staatsbürger ausgrenzt, die nicht türkischer Muttersprache und sunnitisch-islamischer Religionszugehörigkeit sind. Die Gebetshäuser der Aleviten (cemevi) sind verboten. Es ist nicht einmal erlaubt, ein Schild mit dem Wort „Alevi“ (Anhänger Alis) aufzuhängen.
Humanität, Freiheit und Toleranz
Das Alevitentum entstand aus der Verschmelzung von christlichen, gnostischen und schiitischen Elementen. Für die Aleviten ist die sichtbare Gestalt Gottes in erster Linie der Mensch. Daher treten sie für das freie Selbstbestimmungsrecht aller ein, auch der Frauen, denn Mann und Frau sind im Alevitentum gleichberechtigt. Die Frauen tragen kein Kopftuch und nehmen selbstverständlich an den religiösen Feierlichkeiten (Cem) teil, zu denen neben dem traditionellen Sazspiel (eine Art Laute) auch der rituelle Tanz Semah gehört. Die Scharia, das islamische Gesetz, lehnen die Aleviten ab. Für sie ist der Koran kein Gesetzbuch, sondern die Niederschrift von Offenbarungen, die kritisch gelesen werden muss. Daher wehren sich auch, als Muslime bezeichnet zu werden, um nicht mit den Sunniten in einen Topf geworfen zu werden.
Im Gegensatz zum Alevitentum sieht der sunnitischen Islam eine wesentliche Aufgabe in der Missionierung. So wurden auch in alevitischen Dörfern Moscheen gebaut, sunnitische Imame eingesetzt und Druck auf alevitische Familien ausgeübt, Korankursen zu besuchen.
Seit der Verfassung von 1892 sind sunnitischer Religionsunterricht und Ethik Pflichtfächer. Kinder aus alevitischen Familien müssen am sunnitischen Religionsunterricht teilnehmen, um wie die Sunniten fasten und rituell beten zu lernen. Zuhause sind sie wieder Alevi und sehen bei den nächtlichen Feiern ihre Eltern musizieren und Alkohol trinken. Natürlich provoziert ein Unterricht, der der religiösen Erziehung der Eltern zuwider läuft, Gewissens- und Familienkonflikte und Spannungen innerhalb der Gesellschaft. Diese führten in der Vergangenheit immer wieder zu anti-alevitischen Pogromen, so wie 1978 in den Städten Corum und Kahramanmara. Besonders der Brandanschlag von 1993 in Sivas während eines alevitischen Kulturfestivals, bei dem 37 Aleviten ums Leben kamen, bleibt in schmerzhafter Erinnerung.
Aleviten in der europäischen Diaspora
Wichtige Ausgangspunkte für eine Verbesserung der Lage sind die alevitischen Kulturvereine in der europäischen Diaspora, die sich seit den Sechziger Jahren ausgehend von Deutschland organisierten und heute 1,7 Millionen Mitglieder in ganz Europa zählen. Allein dem Kulturzentrum türkischer Aleviten in Berlin gehören 5.000 Gläubige an. "Wir vermitteln nicht nur alevitische Lehre, sondern kümmern uns ums das gesamte Wohl unserer Mitglieder. Es werden Alphabetisierungs-, Deutsch- und Computerkurse angeboten, auch verschiedene sportliche Aktivitäten und Nachhilfe für schwache Schüler", sagt Herr Yorgul, Vorsitzender des Vereins. Seit 2002 darf erstmalig in Europa an fünfzig Berliner Schulen alevitischer Religionsunterricht erteilt werden. "Wir sehen das als vorbildliches Modell, das der Türkei zeigen soll, dass Integration funktionieren kann", so der Vorsitzende.
Zum Thema EU-Beitritt hat Herr Yorgul eine pointierte Meinung: "Natürlich wollen wir nur das Beste für unser Land. Aber solange die Kurden und die Aleviten kein freies Recht auf Meinungsäußerung und Religionsausübung haben, kann die Türkei nicht als demokratischer Staat bezeichnet werden. Und dann gehört sie auch nicht in die EU." Wer also demnächst in einer Diskussion um den Beitritt der Türkei in die EU das scheinbare Totschlagargument "Die Türkei ist doch ein muslimischer Staat!" einwirft, disqualifiziert sich selbst, denn er hat damit 20 Millionen Türken ignoriert, die sich nicht als Moslems betrachten.