Wax Tailor: „Europa - was bedeutet das überhaupt?“
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IÜD - Uni HeidelbergWax Tailor, ein französischer Musiker, der in Frankreich für seine große Liebe zur englischsprachigen Welt bekannt ist, bringt sein fünftes Album heraus, das auf dem Weg zwischen New York und Los Angeles entstanden ist. Derzeit ist er wieder in Europa auf Tournee und spricht mit uns über Themen, die momentan jeden beschäftigen: Brexit, politischer Wandel und Terrorismus.
cafébabel: Die Ideen zu Deinem fünften Album sind Dir auf einem Roadtrip durch die USA gekommen. Was gibt es dort, was man so in Europa nicht findet?
Wax Tailor: Ich kann nicht viel zu anderen europäischen Ländern sagen, aber im Vergleich zu Frankreich herrscht dort eine gewisse positive Grundstimmung, während wir hier zu ständigem Pessimismus neigen. Die Amerikaner haben Energie im Überfluss und einen starken Unternehmergeist, der manchmal fast schon too much ist. Als ich das erste Mal anfing, an einem Symphonie-Projekt zu arbeiten, waren die Amerikaner begeistert. In Frankreich dagegen hat man mir sofort gesagt, das könnte kompliziert werden. Das Komische ist: Am Ende haben wir das Ganze dann doch in Frankreich umgesetzt und nicht in den USA.
cafebabel: Du bist Musiker, gehst auf Tournee. Welche europäische Stadt hat Dich am meisten umgehauen?
Wax Tailor: Insgesamt habe ich ein fantastisches Verhältnis zu Osteuropa. Bei meinem ersten Auftritt in Warschau hatte ich nicht mit solch einem Empfang gerechnet. Die Atmosphäre war richtig energiegeladen. Im Gegensatz dazu neigt man in Frankreich, Großbritannien und Deutschland eher zu einer Art blasierter Distanz was Musik angeht. In Paris, London und Berlin ist ständig was los - da bekommt man viel seltener das Gefühl, dass „man den oder den auf gar keinen Fall verpassen darf“.
Cafébabel: Am Anfang Deiner Karriere hast Du die Tournee der schwedischen Band Looptroop mitorganisiert. Ist Schweden denn wirklich so perfekt wie alle denken?
Wax Tailor: Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob dort alles so perfekt ist. Ich habe eher den Eindruck, dass dort vor allem alles sehr teuer ist! Aber was Looptroop angeht, die waren vor 15 Jahren für mich die beste europäische Band. Ich habe das Projekt Breathing Under Water gestartet, mit dem Ziel, Bands zu fördern, die sich von der in Frankreich, den USA und den englischsprachigen Ländern vorherrschenden Musikkultur losgelöst haben. Ich finde, man sollte sich auch mal für etwas anderes als nur den Mainstream interessieren.
Wax Tailor: "Worldwide"
Cafébabel: Für den Soundtrack von Cédric Klapischs Film Paris wurde einer Deiner Songs ausgewählt. Klapisch ist der erste Regisseur, der einen Film zum Thema Erasmus gedreht hat. Hast Du schon mal im Ausland studiert?
Wax Tailor: Nein, hätte ich aber gerne. Man muss aber auch dazu sagen, dass Erasmus zu meiner Studentenzeit noch nicht so üblich war. Heute erscheint mir das viel gängiger. Viele junge Leute gehen ja sogar in die USA. Ich persönlich wäre bestimmt nach England gegangen. Nach London!
Cafébabel: Das wäre jetzt nach dem Brexit eher problematisch.
Wax Tailor: Dazu habe ich meine ganz eigene Meinung. Grundsätzlich finde ich das Thema sehr komplex. Wenn man jemanden fragt, ob er sich als Europäer sieht, sollte man sich meiner Meinung nach vorher erstmal ein paar Fragen stellen: Worum geht es dabei eigentlich? Was bedeutet es überhaupt, Europäer zu sein? Sprechen wir von einer Gemeinschaft mit 500 Millionen Einwohnern, die dasselbe Schicksal teilen? Oder sprechen wir schlichtweg von einer politischen und wirtschaftlichen Struktur, die ganz offensichtlich realitätsfern ist? Wie man sieht, wirft der Brexit komplizierte Fragen auf. Ich habe schon von so vielen Leuten gehört, dass das Referendum Unsinn war und die Engländer sowieso alle Idioten sind. Ich finde aber, damit macht man es sich zu einfach. Erstmal sollten wir uns fragen, wofür „Europa“ überhaupt steht.
cafébabel: Und wofür steht Europa?
Wax Tailor: Ein realitätsfernes politisches Projekt. Das was da vor sich geht, ist wirklich nicht greifbar für mich. Ich habe auch nicht den Eindruck, zu dem Projekt Europa etwas beizutragen. Ich habe meinen Wahlzettel in die Urne geworfen und hatte nicht das Gefühl, damit etwas bewirken zu können. Außerdem haben wir sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene ein Repräsentationsproblem. Das Vertrauen in unsere Politiker ist verloren gegangen. Und ihnen fehlt einfach der Mut.
cafébabel: Wer könnte denn eine neue Form der Politik verkörpern?
Wax Tailor: Manuela Carmena, die jetzige Bürgermeisterin von Madrid und ehemalige Richterin. Direkt nach der Wahl hat sie angekündigt, dass sie den Posten als Bürgermeisterin nur für eine Amtsperiode übernimmt und dabei weiterhin ihren Pflichten als Bürgerin nachkommen wird. Sie wurde während ihrer Kampagne von Podemos unterstützt, aber mir gefällt an ihr, dass sie das politische Karrieremodell in Frage stellt. Heutzutage ist nämlich genau das eines der Hauptprobleme. Man sollte einfach keine Karriere in der Politik machen können und die Politik erst gar nicht als Karriereleiter betrachten dürfen. Die Leute haben es einfach satt, alle fünf Jahre von den gleichen Politikern zu hören, dass alles besser werden soll.
Eine meiner ersten Kindheitserinnerungen ist die Wahl von Mitterrand 1981. Ich erinnere mich noch genau daran, wie meine Eltern eine Flasche Wein aufgemacht haben und die Nachbarn zu Besuch gekommen sind. In dieser Generation gab es noch so etwas wie politische Hoffnung. Das hielt zwar nur zwei Jahre an, aber gut (lacht). So ein Gefühl kam erst bei der Wahl Obamas 2008 wieder auf, der - zu Unrecht - wie Superman erwartet wurde. Aber allein die Tatsache, dass es überhaupt jemand geschafft hat, etwas zu repräsentieren, woran die Menschen auch gerne glauben wollten, hat mich schon neidisch gemacht. Irgendwann würde ich auch gerne einen Wahlzettel in eine Urne werfen und dabei für und nicht gegen jemanden stimmen. Insgeheim wählen wir doch alle jedes Mal nur das „geringere Übel“. Es gibt niemanden mehr, der uns mitreißt.
Cafébabel: Zeitgleich mit dem Angriff auf Charlie Hebdo nahmen Du Dein Album in Angriff. Die Fertigstellung wiederum fiel mit dem Anschlag in Nizza zusammen. Inwiefern spiegelt sich die Angst vor dem Terror in Deinem Album wieder?
Wax Tailor: Ich war erschüttert. Ich kannte Charlie Hebdo schon als Teenager. Es hat sich so angefühlt, als wären Familienmitglieder ermordet worden. Es war, als würde man ein zweites Mal den 11. September erleben, nur hat uns die Schockwelle diesmal direkt getroffen. Seitdem leben wir in einem Zustand der ständigen Angst, der für den Beginn des 21. Jahrhunderts definitiv prägend ist. Nach den Ereignissen war ich erstmal wie blockiert. Wie viele andere Menschen wahrscheinlich auch hatte ich das Bedürfnis, mich von den Kommentaren bzw. Nachrichten zu distanzieren, die die grauenhaften Bilder immer wieder zeigten. Ein halbes Jahr lang fühlte ich mich irgendwie haltlos. Ich hatte jeden natürlichen Bezug zu den sozialen Netzwerken verloren. Früher habe ich die Dinge nie wirklich hinterfragt, doch dann wurde mir klar, dass ich meine Sichtweise überdenken muss. Daraufhin habe ich mir über einiges Gedanken gemacht: die Trennung von Staat und Kirche, Religion, Toleranz. Es gab eindeutig ein Vorher und ein Nachher.
Cafébabel: Du sagst, Du möchtest die Menschen mit Deiner Musik zum Nachdenken anregen…
Wax Tailor: Und oft wurde ich missverstanden. Mit allem was ich tue, versuche ich gegen die Abstumpfung zu kämpfen. Heutzutage muss Musik glatt und eingängig sein. Alles muss irgendwie konventionell sein. Und sobald man etwas Unkonventionelles macht, muss man sich rechtfertigen. Wenn ich mir einen Woody Allen Film über das Paris der Belle Époque anschaue, fühle ich mich danach schlauer und bin nachdenklich geworden, obwohl er nichts Politisches enthält. Wenn ich mir aber irgendeinen Blödsinn oder eine schlechte Serie reinziehe, habe ich das Gefühl, dass man mir ins Gehirn scheißt, um mich dümmer und fügsamer zu machen. Wenn man sich nicht beeinflussen lassen will, muss man echt aufpassen: Nachdenklichkeit bedeutet Wachsamkeit.
Cafébabel: Wirst Du oft missverstanden?
Wax Tailor: Sagen wir es mal so, heute äußere ich meine Meinung eher seltener. Nicht weil man mich zensieren könnte, sondern eher, weil ich es allmählich leid bin. Die Leute haben ganz lange einen Zusammenhang zwischen meiner Musik und dem, was ich eigentlich denke, gesehen. Und dann haben sie sowas gesagt wie: „Wenn du nicht meiner Meinung bist, dann höre ich mir deine Musik auch nicht an.“ Okay, von mir aus, aber das ist doch irgendwie schade. Und um nochmal auf die Unterschiede zwischen Frankreich und den USA zurückzukommen: Als mein Dokumentarfilm über unabhängige amerikanische Plattenläden (Anm. d. Red.: „In Wax we trust“ erscheint am gleichen Tag wie das Album) entstanden ist, habe ich mich sehr viel mit Amerikanern über Politik unterhalten. In New York habe ich ganz spontan mit den verschiedensten Leuten diskutiert: einem Typen, der Trump unterstützt hat, einer Wählerin von Hillary Clinton und einem Fan von Bernie Sanders. So etwas würde einem in Frankreich erst gar nicht passieren.
Cafébabel: Weshalb?
Wax Tailor: In Frankreich sind wir irgendwie politikverdrossen. Ich weiß nicht warum, aber es ist echt ein Problem, dass sich die Leute einfach nicht für Politik interessieren. Denn wenn ich mich mit Franzosen über Politik unterhalte, dann bekomme ich immer das Gleiche zu hören: „Alles Mist!“ Schön und gut, aber was machen wir denn jetzt damit? Was wollen wir überhaupt erreichen? Wie soll es weitergehen? Außerdem stört es mich, wenn mal wieder vergessen wird, dass wir Musiker auch Bürger sind. Und dann wundern sich die Leute, dass wir eine persönliche Meinung haben und diese auch äußern. Doch wenn wir morgens aufstehen, egal ob als Musiker, Klempner oder Dichter, stellen wir fest: Wir alle sind Teil der Gesellschaft. Man kann sich von ihr nicht einfach loslösen. Die wichtigste Inspirationsquelle für uns Künstler ist und bleibt immer noch die Welt. Sonst könnte man ja auch gleich sagen: „Halt die Klappe und sing einfach.“
__ Reinhören: 'By Any Beats Necessary' von Wax Tailor (Lab'oratoire/2016)
Translated from Wax Tailor : « L’Europe, ça veut dire quoi au juste ? »