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Was'n dit!? Bei Rot über eine Straße ohne Autos gehen?

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Berlin

In dieser neuen Serie auf Babel Berlin fragen sich Deutsche und andere Europäer in Berlin regelmäßig in bestem Berliner Dialekt gegenseitig: "Was'n dit!?" Dabei spüren sie die kleinen und großen Merkwürdigkeiten der Stadt auf und versuchen herauszufinden, was es eigentlich damit auf sich hat.

Heute war Sébastien Vannier in Mitte und hat dort ein ebenso typisch deutsches wie für Auswärtige verstörendes Phänomen beobachtet.

von Sébastien Vannier

Demnächst wird die Botschaft der USA an den Pariser Platz umziehen und damit zwangsweise einem Phänomen ein Ende bereiten, das sich besonders für einen Franzosen in Berlin zu beobachten lohnt. Bekanntermaßen machen unsere Freunde von der anderen Seite des Atlantiks ungern halbe Sachen, wenn es um die Sicherheit geht, und der abgesperrte Bereich rund um das derzeitige Gebäude der Botschaft in der Wilhelmstraße blockiert einen ganzen Häuserblock. Hieraus entsteht eine Situation, die für Berliner anscheinend ein ernsthaftes moralisches Dilemma auslöst.

Der Beobachtungsposten ist folgender: Wir befinden uns an der Ecke Neustädtische Kirchstraße/Unter den Linden, wobei erstere 50 Meter weiter mit den gewaltigen Betonblöcken zum Schutz der Botschaft versperrt ist. Um diese Neustädtische Kirchstraße zu überqueren, muss man eine Fußgängerampel benutzen. Nur zur Erinnerung: Ohne hier jemals mit Autoverkehr rechnen zu müssen. Es wäre zwar falsch zu behaupten, dort käme nie ein Auto. Während meiner aufmerksamen zwanzigminütigen Beobachtung konnte ich immerhin zwei Wagen vermerken. Der erste versuchte in die Straße abzubiegen, drehte aber sogleich wieder um. Der Fahrer hatte mit Sicherheit zu spät gemerkt, dass die Straße ja gesperrt ist und erst im letzten Moment realisiert, dass die Chancen auf ein erfolgreiches Attentat mit einem Polo gegen 4 Betonblöcke wohl eher gering sind. Das zweite Auto kam aus der Botschaft und schob sich unter den Augen der Wachbeamten langsam durch eine schmale Lücke neben den Betonklötzen. Zwei Autos in zwanzig Minuten. Selbst einsame Straßen in Bayern am Sonntagmittag sind belebter. Gleichwohl funktioniert die Ampel ausgezeichnet. Eine Minute Rot, 30 Sekunden Grün, eine Minute Rot, 30 Sekunden Grün… Doch das eigentlich Interessante dabei ist nicht, den Straßenverkehr zu beobachten – oder besser, den nicht vorhandenen Straßenverkehr – sondern vielmehr die erstaunliche Energie, mit der die Passanten der Versuchung widerstehen, bei Rot die Straße zu überqueren.

Ort des Geschehens: Die Kreuzung vor der amerikanischen Botschaft.

In Frankreich ist das Gesetz der Straße folgendes: Ich gehe über die Straße, wenn die Gefahr eines tödlichen Unfalls höchstens 80% beträgt. In Paris dürfen es 90% sein. Ich an meiner Straßenecke beobachte dementsprechend fasziniert, wie gewissenhaft und geduldig die Berliner warten, bis das kleine Männchen auf Grün springt und sie gehen können. Im Namen der Objektivität muss man feststellen, dass es einige Waghalsige gibt, die dem Verbot trotzen. Man sieht, wie sie erst einmal zögerlich einen kleinen Schritt nach vorne machen, sich noch mehrmals vergewissern, dass es auch wirklich kein Autofahrer wagt, in die Betonblöcke hineinzurasen, um dann im Laufschritt die Straße zu überqueren. Dabei versuchen sie, die inquisitorischen Blicke der wartenden Passanten auf der anderen Straßenseite, so gut es geht zu ignorieren. Wenn einer dieser Abenteurer den großen Sprung geschafft hat, sind unterschiedliche Reaktionen zu beobachten. Manche nehmen ihr Herz in beide Hände und sagen sich, wenn mich jemand anmeckert, dann hab’ ich wenigstens nicht angefangen, und machen sich auf den Weg. Andere, neidisch gegenüber diesem selbstvergessenen Mut, machen einen Schritt – trauen sich dann aber doch nicht. Die meisten aber bleiben stoisch stehen und verachten, heimlich oder nicht, die unverbesserlichen Gesetzesbrecher.

Bleibt die Frage: Wie kann man diesen offensichtlichen kulturellen Unterschied zwischen Deutschen und Franzosen, hier fast die Karikatur davon, erklären? Warum sind die Deutschen so obrigkeitshörig und sei es nur gegenüber einer roten Ampel? Die Antwort folgt im nächsten Teil der Serie.