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Wahlen in der Türkei: Ahmet Insel zu Erdogans "verrückten Plänen"

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Katha Kloss

Politik

Eins ist so gut wie sicher, Recep Tayyip Erdogans Partei AKP ist Favorit bei den heutigen Parlamentswahlen, bleibt nur die Frage offen mit welcher Stimmenverteilung sie ins Parlament einziehen wird. Die Wahlen am 12. Juni in der Türkei werden aufdecken, inwiefern der amtierende Premierminister die Politik in seinem Land weiterhin transfomieren kann.

In den letzten 9 Jahren seiner Amtsperiode hat er bereits die Macht von Armee und Richtern eingedämmt, die Islamisierung der Gesellchaft schreitet weiter voran. Nun denkt Erdogan sogar daran, ein präsidentielles Regime einzurichten. Visionen von Ahmet Insel, dem liberalen Wirtschaftspolitologen, Verleger von Orhan Pamuk und Uniprofessor in Paris.

Cafebabel.com: Wie lauten die großen Herausforderungen dieser Wahlen?

Ahmet Insel: Zwei Dinge sind sicher. Die Regierungspartei AKP [Adalet ve Kalkınma Partisi, islamisch-konservative Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung; A.d.R.] des Premierministers Erdogan wird die Mehrheit erhalten. Aber ebendiese Partei möchte die Verfassung ändern. Das Gesetz verlangt eine Dreifünftel-Mehrheit des Parlaments für jegliche Veränderungen in der Verfassungscharta. Die Herausforderung ist demnach folgende: Erhält die AKP eine Mehrheit von 330 Abgeordneten? Die Wahrscheinlichkeit dafür ist gering, aber die Frage liegt trotzdem in der Luft. Die zweite Herausforderung ist ein Test für Erdogan. Sollte das Ergebnis der AKP nach 9 Jahren an der Macht wieder bei 45 bis 47 % liegen, könnte sich der aktuelle Premier bereits in den Wahlkampf für die Präsidenschaftskampagne in drei Jahren projizieren. Und er wird alle Hebel in Bewegung setzen, um ein Präsidentialregime einzurichten.

Cafebabel.com: Wie beurteilen Sie den Verlauf der Wahlkampagne?

Ahmet Insel: Wir haben einen starken Interessenrückgang im Vergleich zu den vorhergehenden Kampagnen gesehen. Die diesjährige Kampagne war sehr hart, geprägt von hitzigen Wortgefechten. Teilweise auch Körpereinsatz. Wir waren 2011 fast auf dem Niveau der Spannungen der Kampagnen der 1970er Jahre, mit Attacken im Sitz der Regierungspartei und Toten während Konfrontationen mit der Polizei. Die Türkei kann auf diese Kampagne keineswegs stolz sein. Die Spannungen haben zwei Gründe. Die Arroganz der Regierungspartei, die dazu führt, dass die Polizei sich viel mehr Übergriffe erlaubt, und das verschärfte Verhältnis zwischen Regierung und kurdischen Bewegungen.

Cafebabel.com: Spaltet der Autoritarimus des Premierministers das Land?

Ahmet Insel: Man könnte sagen, dass Erdogan bei einem Teil der Bevölkerung eine unumwerfliche Bewunderung hervorruft, ein Drittel der türkischen Bevölkerung reagiert allerdings auch mit Ablehnung und Hass. Seine Autorität ist in der letzten Zeit gestiegen, könnte sich aber auf lange Sicht hin gegen ihn wenden.

Cafebabel.com: Erstes Szenario - Erdogans AKP trägt den Sieg mit einer Dreifünftel-Mehrheit davon. Ist seine Macht dann quasi uneingeschränkt?

Ahmet Insel: In diesem Fall würde er eine Verfassungsänderung vornehmen und versuchen ein präsidentielles Regime eizuführen. Aber Vorsicht: Er muss dafür noch die interne Opposition der Partei gewinnen, die sich dem Projekt widersetzt. Erdogan müsste eine Mehrheitskoalition für das Thema erreichen. Auch mit der Mehrheit des Parlaments wäre die präsidentielle Reform noch nicht sicher in der Tasche: Sie müsste zunächst einem Referendum unterstellt werden. Und diesbezüglich ist es nicht einmal sicher, dass die Mehrheit der AKP-Wähler für ein präsidentielles Regime stimmen würden.

Cafebabel.com: Zweites Szenario - Erdogans AKP erreicht die Dreifünftel-Mehrheit. Würden die Spannungen im Parlament dann ansteigen?

Ahmet Insel: Ganz und gar nicht. Im Gegenteil, die politischen Spannungen würden abgemildert, wenn Erdogan die Mehrheit nicht erreicht. Die Spannungen würden eher dann unerträglich, wenn die AKP eine Dominanz im Parlament erreichen würde, denn dann bestünde die Gefahr eines autoritären Abdriftens. Im Falle einer ausgeglicheneren Mehrheit, wären die Prozesse länger aber weniger spannungsgeladen auf sozialem Niveau: die 33 - 35 kudischen Abgeordneten beispielsweise könnten in Minderheitenfragen eine aktivere Rolle einnehmen. Das ist entscheidend, denn wenn man mit den Kurden nicht im Parlament verhandelt, dann könnten diese gewillt sein anderswo mit Waffengewalt zu verhandeln.

Cafebabel.com: Sind die von Erdogan selbst als « verrückt » bezeichneten Projekte wie der « neue Bosporus » oder die Baupläne für die Metropolen Ankara und Istanbul tatsächlich realisierbar?

Ahmet Insel: Vielleicht sind sie realisierbar, aber nichts garantiert dafür, dass das Projekt für den neuen Kanal [Kostenpunkt 10 Milliarden Dollar; A.d.R.] rentabel ist. Es ist übertrieben, die Projekte zu den neuen Vorstädten außerhalb von Istanbul und Ankara als „verrückt“ zu bezeichnen, aber in dieser Art von Größenwahn fühlt er sich einfach am wohlsten. Es ist jedoch erstaunlich, dass sich die von Erdogan als „verrückt“ präsentierten Projekte ausschließlich auf Bau- und nicht politische Projekte beziehen. Warum präsentiert er denn kein verrücktes Projekt wie beispielsweise den EU-Beitritt für 2023 [zum hundertjährigen Bestehen der Republik; A.d.R.]?

Cafebabel.com: Die Türkei scheint die Frage des EU-Beitritts ersteinmal beiseite gelegt zu haben…

Ahmet Insel: Ja und nein. Es handelt sich dabei eher um eine Haltung, mit der man der EU zeigen möchte: „Wenn ihr uns nicht wollt, dann zeigen wir Euch eben, was ihr verpasst“. Das ist genau wie in Liebesdingen. Die Mehrheit der Türken möchte aber nachwievor der Union beitreten.

Cafebabel.com: Die Europafrage war also Thema der Kampagne?

Ahmet Insel: Sie wurde nicht öffentlich angesprochen. Die Tendenz ist folgende: Warten wir ab, bis Merkel und Sarkozy nicht mehr an der Macht sind, und dann sehen wir weiter.

Fotos: Homepage ©Travel Aficonados/flickr; Ahmet Insel ©Nicola Accardo; Erdogan ©LoboEstepario/flickr

Translated from Ahmet Insel : « La Turquie ne peut pas être fière de sa campagne »