Von wegen subtil: Plädoyer für eine neue Schüchternheit
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Deutsche Männer können nicht flirten. Und wenn sie es doch mal versuchen, dann ist das viel zu subtil für die meisten Frauen. Woran liegt es nur, dass wir immer wieder die gleichen Klischees über Männer – und Frauen – verbreiten? Wir drehen den Spieß um und plädieren für eine neue Schüchternheit.
Neulich, in der U-Bahn irgendwo in Berlin-Friedrichshain. Die Uhr zeigt 2h15 an, die meisten Leute im überfüllten Wagon sind entweder todmüde oder angetrunken. Ich sitze am Fenster, zwischen einem sabbernden Hund und einer dösenden Oma. Am Frankfurter Tor passiert es dann: Ein junger Mann und eine junge Frau steigen in die U-Bahn, er versucht hin und wieder ungelenk seinen Arm um ihre Hüfte zu legen. Allein, er schafft es nicht. Entweder die Bahn ruckelt oder ein Hund fährt dazwischen. Einmal stört auch sein übergroßer Rucksack, der sich in einem anderen Passagier verkeilt hat. Sie lächelt und erzählt irgendeine lustige Geschichte. Er lässt sich vom Ruckeln des Zugs lieber auf die andere Seite werfen und schaut schüchtern aus dem Fenster in die Unendlichkeit des dunklen Bahnschachts.
Zehn Minuten schaue ich mir das an, dann wird es mir zu blöd. Kommen die denn nie zur Sache? Dabei sieht doch ein Blinder mit Krückstock, dass sie sich mögen! Warum schlingt er nicht den Arm um ihre Hüfte, warum nimmt sie nicht seine Hand, wann, ja wann nur küssen sie sich endlich? Zu diesem Zeitpunkt beobachtet der ganze Wagon das verzweifelte Treiben. An der nächsten Station passiert das Unmögliche: Sie lächelt und sagt: „Tschüss! Hat mich gefreut.“ Dann ist sie auch schon ausgestiegen. Zurück bleibt ein ziemlich unglücklich aussehender junger Mann. Und eine ganze Menge Leute, die ihm am liebsten einen Tritt in den Hintern verpassen würden.
Viel zu subtil oder einfach nur verkannt?
Was ist nur los mit dem deutschen Mann? Warum ist er im Flirten so gänzlich unbegabt? Das könnte man sich jetzt fragen und angesichts der schier erdrückenden Beweislage zu Ungunsten der deutschen Männer den Umzug nach Spanien planen. Ein beliebtes Gegenargument in diesem Zusammenhang ist die Behauptung, deutsche Männer flirteten einfach subtiler als Spanier oder Franzosen. Was Frau für Desinteresse hielte, sei in Wirklichkeit brennende, aber leider verkannte Leidenschaft. Dieses Gerücht geht wohl auf die Single Aurelie (2003) der Band Wir sind Helden zurück, doch nur weil die mal cool waren, bedeutet das noch lange nicht, dass sie mit ihrer Subtilitätsthese auch Recht haben. Denn, und das ist jetzt wirklich wahr, auch wenn es nicht von einer deutschen Superband kommt, die Deutschen sind beim Flirten nicht subtiler. Sie sind einfach nur schüchtern. Und das ist doch eigentlich wunderbar.
Nochmal zum Mitschreiben: Schüchternheit ist wunderbar!
Wer sagt denn, dass alle Welt direkt, zielstrebig und extrovertiert sein muss? Das klingt doch eher nach einer Floskel aus einem dümmlichen Motivationsschreiben. Warum du mich küssen solltest? Weil ich direkt, zielstrebig und extrovertiert bin. Da weißt du, was du hast! Dass die Oberfläche langweilig ist, wissen wir doch längst. Sollte uns nicht viel eher das Indirekte, das Geheimnisvolle und Schüchterne anziehen – das uns überraschen, faszinieren und umhauen kann? Das frage ich meine Freundin Giulia, die vor ein paar Monaten aus Italien nach Berlin gezogen ist: „Es gibt nun mal verschiedene Arten zu flirten. Man muss ja nicht gleich so explizit sein wie die Italiener.“ Meistens weiß Giulia zwar nicht so recht, woran sie bei den Deutschen ist, aber das findet sie gar nicht schlimm: „Das ist sozusagen die Faszination des Mannes, der seiner selbst sicher ist und es nicht nötig hat, sein Ego durch Flirterfolge aufzubauen.“ Ja ja, Schüchternheit kann faszinierend sein.
Dass der deutsche Mann besser ist als sein Ruf, bestätigt mir auch Sini, die ursprünglich aus Finnland kommt, aber in den USA aufgewachsen ist: „Ich habe in den letzten sechs Jahren in sechs verschiedenen Ländern gelebt. In Berlin bin ich aber mit Abstand am häufigsten von Männern angesprochen worden.“ Die Berliner findet Sini wunderbar, daran änderte auch ein längerer Aufenthalt in Spanien nichts. „Ich mag die Deutschen lieber – wenn ein Deutscher mir ein Kompliment macht, heißt das wirklich etwas.“ Meistens reiche schon ein Augenaufschlag oder ein Lächeln, um einen deutschen Mann anzulocken. Ein weiterer Vorteil der Schüchternheit: Sie ist die Schwester der Höflichkeit, zumindest meistens. Wer beim Flirten schüchtern ist, wird der Auserwählten wohl eher nicht ohne Vorwarnung auf den Mund fallen. Denn darüber ärgert Frau sich ja eigentlich am meisten, wenn die von ihr gesteckten Grenzen nicht respektiert werden. Beim schüchternen Mann ist das Risiko da kleiner. Vorausgesetzt, es ist nicht zu viel Alkohol im Spiel. Dafür muss man ihm vielleicht manchmal in den Hintern treten – oder einfach seine Hand nehmen.
Ein kleines Erfolgserlebnis ist besser als keines
Um zu dem unglücklichen Pärchen in der U-Bahn zurück zu kommen: Natürlich würde ich jetzt gerne erzählen, dass er – gerade als die Türen sich pfeifend schließen wollten – todesmutig aus der Bahn gesprungen und seiner Herzensdame mit langen Sprüngen nachgesetzt ist. Dass sie sich auf dem Bahnsteig vor allen Leuten geküsst und anschließend zusammen abgezogen sind. Leider nur hat er das nicht getan, sondern sich brav neben die dösende Oma gesetzt. Aber vielleicht hatte er ja schon ihre Nummer und das war für ihn, als schüchternen Mann, genug Erfolgserlebnis für einen Abend. Vielleicht war es bei ihm zu Hause auch einfach zu unaufgeräumt. Der schüchterne Mann ist nämlich meistens auch pragmatisch. Und das nächste Mal klappt es bestimmt.
Nachtrag: Der schüchterne Mann ist natürlich keine monosexuelle Spezies. Es gibt sie natürlich ebenso, die schüchterne Frau. Das Plädoyer für eine neue Schüchternheit gilt also gleichermaßen für alle – schließlich wollen wir hier keine blöden Klischees verbreiten.
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