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Von Europa sprechen: interaktiver Journalismus, eine glaubhafte Alternative?

Published on

Strassburg

Von Julie Beckrich Aus dem Französischen von Saskia Biebert

Rückblick auf die Konferenz vom 16. Oktober 2009-12-01

Das Web 2.0 bringt die klassischen Formen von Journalismus und Information ins Wanken.

Auch wenn seine Definition unscharf bleibt (siehe hierzu die Definition von Frédéric Lefebvre, auf Französisch), will sich das soziale Netz vor allem demokratisch: die Nutzer bilden zusammen ein menschliches Netzwerk und tragen so ihren Teil zu den Inhalten im Web bei. Diese „Netzrevolution“ ermöglichte die Bildung einer europäischen Blogosphäre und weckte damit scheinbar auch neues Interesse für Europa. Im Rahmen der Europäischen Woche der lokalen Demokratie, initiiert vom Europarat in Straßburg, hat Café Babel Straßburg dazu eingeladen, die Frage zu diskutieren: „Von Europa sprechen: interaktiver Journalismus, eine glaubhafte Alternative?“

Zur Diskussion versammelte CBS sowohl professionelle Journalisten als auch europäische Blogger und einen Kommunikations- und Medienwissenschaftler. So tauschten Pierre Haski, Mitbegründer und Herausgeber von Rue 89, Gilles Chavanel von der europäischen Redaktion von France 3, Fabien Cazenave, Mitglied der Redaktion und ehemaliger Chefredakteur des Taurin-Magazins, und Jean Michel Utard, Professor der Kommunikations- und Medienwissenschaften an der Universität Straßburg, ihre Gedanken zu den Wandlungen des Journalistenberufs im Zeitalter des Web 2.0 aus und stellten die Frage über die Möglichkeiten, die das Internet bieten kann, um (endlich?) über Europa zu sprechen.

Denn Europa kommt von fern…

Gleichgültigkeit, Desinteresse oder gar Abneigung –Medien und Politik sind sich so gut wie einig, wenn es darum geht, die Gefühle der EU-Bürger für das heutige Europa zu beurteilen. Die ständige Abnahme der Beteiligung an den Europawahlen seit 1979 dient den politischen Akteuren häufig zur Zeichnung eines pessimistischen Bildes vom Interesse der Bürger für Europa. Gleichzeitig reflektiert das „Agenda-Setting“ der Medien dieses vermeintliche Desinteresse. Die Rubrik „Europa“ ist, wenn es sie überhaupt gibt, nicht selten eine einfache Blütenlese „nationaler“ Standpunkte zu europäischen Problematiken und neuen Gesetzgebungen der europäischen Union.

Pierre Haski fragt sich, warum der traditionelle Journalismus nicht mehr von Europa zu sprechen weiß. Gerade heutzutage, wo das einige Europa vorwärts schreitet, sich ausweitet und dabei immer mehr unseren Alltag beherrscht, scheint es keinen zentralen Platz im öffentlichen Diskurs mehr zu verdienen.

Haski bekräftigt: „In den achtziger Jahren war Europa noch in Mode!“ Begeistert erinnert sich der ehemalige Chefredakteur des „Europa“-Buches der französischen Tageszeitung Libération an die Erfahrung der Journalisten während der Europawahlen im Jahr 1984: einen ganzen Monat lang hatten mehrere Journalisten aus verschiedenen europäischen Städten live von Europa gesprochen, als schrieben sie alle an einem gemeinsamen europäischen Tagebuch. Solche Erfahrungen macht man heute nirgendwo anders mehr als im Internet.

Warum Europa (die Presse) langweilt

Zu stark institutionalisiert, zu kompliziert: Europa langweilt. Gilles Chavanel zufolge ist Europa „nicht interessant, weil wir darin nicht ausgebildet sind“. Er findet, dass „dem europäischen Thema in den Schulen zu wenig Unterrichtszeit gewidmet wird“, und kritisiert dabei insbesondere die „Journalistenschulen, die Europa nicht genug Zeit schenken.“ Bleibt zu fragen, ob dies die Aufgabe der Journalistenschulen ist? Für den Journalisten von France 3 Europe in Straßburg haben die Medien eine pädagogische Pflicht für den Aufbau Europas. „Wir setzen uns bei France 3 aktiv ein, um davon zu überzeugen, dass Europa wichtig ist und den Rhythmus unseres Lebens bestimmt!“ So biete etwa France 3, fügt er hinzu, „seinen Journalisten die Möglichkeit, sich zu europäischen Themen weiter zu bilden, immer in Hinblick auf das aktuelle Geschehen.

Jean-Michel Utard hingegen ist der Meinung, dass die Öffentlichkeit – die er als das Publikum von Journalismus und Kommunikation im Sinne Erik Neveus (1) definiert – vom Journalisten keine schulmeisterlichen Vorträge erwartet. Er erkennt dagegen „eine gewisse Ungeduld (Europa im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses zu sehen), wobei jedoch ein gewisses Hineinwachsen in diese Thematik nötig sein wird.

Schließlich wagt Pierre Haski, auch die ökonomischen Gründe anzusprechen, aus denen nur wenige Blätter europäische Themen ausgiebig behandeln. „Es gibt unüberwindbare Barrieren vor allem finanzieller Art, die die Redaktionen dazu zwingen, nur die wichtigsten Gebiete abzudecken – vor allem natürlich die nationalen.“ Hier rückt man so in die Nähe der pessimistischen Theorie von Erik Neveu, der vom marktbestimmten Journalismus spricht.

Das Netz als Träger für eine europäische Diskussion

Im Internet, dem Medium, das nicht nach der Logik seiner traditionellen Vorfahren funktioniert, hat sich inzwischen eine europäische Blogosphäre herausgebildet (Cafébabel, dieEuros, Fenêtre sur l’Europe, Taurin-Magazin…). So überschreitet es manche Grenzen, von denen sich die traditionellen Medien aufgehalten sehen. Fabien Cazenave bestätigt den Erfolg des Taurin-Magazins: „Dieses Online-Magazin für junge Europäer existiert in 37 europäischen Ländern. Wir haben bis zu 90 000 Leser im Monat! Dort versuchen wir, Europa zu übermitteln und zu erklären.

Die Frage, die Café Babel auf die Tagesordnung der Diskussionsrundegesetzt hatte, wollte vor allem wissen, ob ein gewisses Medium (die Presse, die audiovisuellen Medien, oder das Internet…) die Öffentlichkeit mehr als andere für Europa interessieren könne.

Für Jean-Michel Utard, der seine Doktorarbeit dem Zusammenhang zwischen der Hervorbringung von Information und der Herausbildung von Meinung gewidmet und hierfür den Fernsehkanal ARTE untersucht hat, hat das Interesse der Öffentlichkeit für Europa nichts mit dem technischen Träger eines Mediums an sich zu tun. Die öffentliche Meinung bilde sich durch die Erfahrung der EU-Bürger mit Europa: man solle den Einfluss der Medien auf die öffentliche Meinung nicht überbewerten. Und die „Medienkampagne“ für ein französisches „Ja“ zur Europäischen Verfassung im Jahr 2005, die vergeblich blieb, bestätigt seine Äußerungen. Mehr als der Träger oder die Art des Mediums könne die neue Beziehung zur Information im Rahmen des Web 2.0 die aktuelle Mediatisierung Europas erklären.

Internet, Ort der Freiheit…

Der Wissenschaftler Utard versucht, den Erfolg des Internets im Diskurs über Europa zu erklären. Er unterstreicht dabei, dass die Zensur, die den traditionellen Journalismus treffen kann (da es sich dabei um eine Industrie und einen Beruf handele, der seiner ganz eigenen Logik folge), im Internet nicht mehr existiert, so dass dem Meinungsaustausch dort viel weniger Grenzen gesetzt sind. Pierre Haski, Gründer von pure player (2) Rue 89, macht in seinem „neuen Medium“ täglich neue Erfahrungen mit dieser Realität. Er stellt fest, dass „Internet imstande ist, Hindernisse, die man in anderen Medien vorfindet, zu überwinden.“ Das Netz setze keine „Erlaubnis, zu sprechen“ voraus. Die Technologie erlaube allen, sich auszudrücken. In den traditionellen Medien haben die Menschen kaum den Eindruck, mit betroffen zu sein. Das interaktive Modell des Web 2.0 hingegen regt zur Teilnahme und zur Diskussion an. Genau dies ist das Ziel der Informationsseite Rue 89: sie will aus dem Leser eine positive Kraft machen und so ein System schaffen, in dem Internetnutzer und Journalisten in Dialog treten, um so die Teilnahme des ersteren (Beitrag zur Informationsbeschaffung, Kommentare…) mit der Kontrollfunktion des letzteren (Vergleich von Informationen und Quellen, Kontextsetzung, Vermittlungsarbeit…) zu verbinden.

Diese Art von Zusammenarbeit zugunsten von Information bedeutet zum einen ein neues Engagement der EU-Bürger in der Hervorbringung von Information, zum anderen neue Funktionen des Journalisten. Dieser ist nicht mehr nur auf gewissen Gebieten spezialisierter Journalist, sondern sorgt zudem für die Vermittlung der Kommentare und Beiträge der Internetnutzer.

Diese Neuerungen, und besonders die Teilnahme der Bürger an der Hervorbringung von Inhalten für das Web 2.0, scheinen die europäischen Problematiken in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken. Jean-Michel Utard hingegen, der den Einfluss der traditionellen Medien auf die öffentliche Meinung zum Thema Europa relativiert hatte, stellt die Frage nach der Notwendigkeit eines journalistischen Vorgehensweise für die Belebung der europäischen Debatte: „Warum muss man, um von Europa zu sprechen, unbedingt journalistisch vorgehen?“ fragt der Wissenschaftler. Hier berührt er andere, weiter führende Fragen: ist der Internet-Journalismus ein anderer als der der traditionellen Medien? Schenkt ihm das Publikum auf gleiche Weise Glauben? Welche neuen Verhaltensweisen sollten die Journalisten in diesem „neuen“ Umfeld, das zu großen Teilen von den Nutzern bestimmt wird, an den Tag legen? Wie auch im Konferenzsaal, geht die Diskussion weiter… auf dem Blog!

(1) Sociologie du Journalisme, 2001, Erik Neveu Erik Neveu ist französischer Soziologe und Politologe. Er unterrichtet Politikwissenschaften in Rennes. Seine Forschung widmet er vor allem den politischen und sozialen Problemen in der kulturellen Praxis sowie dem Journalismus und der Kommunikationsgesellschaft.

(2) EIn pure player: unabhängige, zu keinem anderen Medium gehörende Informationsseite