Von der Urne auf die Straße: Boykott der Demokratie?
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Stimmenthaltungen gelten in entwickelten Demokratien als Ausdruck von Desinteresse am politischen Geschehen. Doch was, wenn sie systematisch zu politischen Zwecken eingesetzt werden würden?
Proteste, empörte Bürger und Demonstranten überall wohin das Auge blickt. Angefangen in der arabischen Welt, längst in Europa angekommen, gehen immer mehr Menschen auf die Straßen. Einige demonstrieren gegen die Sparmaßnahmen, andere wiederum schmettern Parolen wie „wir sind kein Material in den Händen von Politikern und Bankern“ und kämpfen für „echte Demokratie jetzt“. Wirtschaftliche Rezession und der zunehmend verlorengehende Glaube an die Politik sind mittlerweile auch in vielen Ländern Europas vorherrschend. Steigende Arbeitslosigkeit, sinkender Lebensstandard, Perspektivlosigkeit und schlecht bezahlte Jobs waren es, die anfangs die Jugendlichen und aktuell immer mehr Vertreter verschiedener Gruppen zusammenbringen. Inwiefern aber die Proteste auch in Europa eine mögliche Lösung darstellen und ob sie wirtschaftliche und politische Veränderungen hervorrufen können, ist zurzeit noch nicht absehbar.
Gemeinsam ist allen Demonstranten ihr Kampf für Veränderungen im jeweiligen politischen System. Dennoch ergibt sich aus den Protesten in Madrid und Kairo ein grundlegender Unterschied – nämlich der Grund dieser Unzufriedenheit. Während in Ägypten gegen das autokratische System protestiert wurde - man kämpfte, um wählen zu können und Demokratie einzufordern - hieß es in Teilen Europas, dass Wahlen an sich ihre Wirksamkeit verfehlt hätten.
Geht man davon aus, dass die Wahlbeteiligung die Zustimmung zur repräsentativen Demokratie ausdrückt, sollte eine Wahlenthaltung als Ablehnung eben jener gewertet werden. Derartige systematische Wahlenthaltungen sind aus verschiedenen Regionen Europas längst bekannt. Im portugiesischen Dorf Lajeosa do Dão boykottierten Bürger kürzlich den Ablauf der Parlamentswahlen, indem sie das Türschloss einer Grundschule, in der die Wahlen stattfinden sollten, verriegelten. Ein größeres Ausmaß hatte dagegen der Aufruf zum gesamtgesellschaftlichen Wahlboykott in Spanien, bei dem sich allein in Madrid etwa 25 000 Menschen und rund 60 000 landesweit beteiligten.
Jedoch bleibt der Zweifel bestehen, ob durch Wahlabstinenz und Proteste ein politisches System grundsaniert werden kann. Sicher ist, dass ab einer bestimmten kritischen Masse von Nicht-Wählern das Wahlergebnis als nicht repräsentativ und damit illegitim bewertet würde, was wiederum Neuwahlen zur Folge haben müsste. Reagierten die Wähler abermals auf dieselbe Weise, könnte ein Verfassungsreferendum den politischen Systemwechsel erzwingen. Doch Wechsel wohin? Folgt auf die repräsentative Demokratie die partizipatorische? Es wird als bedenklich angesehen, dass Flächenstaaten wie Spanien, Portugal oder Griechenland sich mit dieser Staatsform regieren ließen. Welche Staatsform bleibt den Europäern übrig? Waren sie nicht diejenigen, die sich so stolz der arabischen Welt gegenüber mit ihrer Demokratie priesen?
Foto: Homepage (cc)tupolev und seine kamera/flickr